„Vergangenheitsbewältigung“ Jüdische Rundschau, 16.11.1992

16.11.1992

Projekt Beschreibung

„Vergangenheitsbewältigung“

von Andreas Maislinger

„Lehrstück der Vergangenheitsbewältigung“, so ist der Bericht über den Konflikt an der Universität der Bundeswehr in München in der Süddeutschen Zeitung vom 12. Oktober überschrieben. Das Wortungetüm „Vergangenheitsbewältigung“ scheint in den Zeitungen häufiger auf denn je, täglich wird „Vergangenheitsbewältigung“ beschrieben oder verlangt. Doch was ist damit überhaupt gemeint? Was heißt „Vergangenheitsbewältigung“? Um es vorwegzunehmen, den Gang zum Bücherregal können Sie sich sparen, eine Definition werden sie nicht finden. Sogar das auf „Brisante Wörter“ spezialisierte, über 700 Seiten umfassende „Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch“ des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim verzichtet darauf, diesen wirklich brisanten Begriff der deutschen Sprache auch nur zu erwähnen. Die englische Übersetzung des Begriffes „Vergangenheitsbewälti- gung“ (in der Folge nur „VB“) lautet: Coming to terms with the past. Es geht also nicht um ein Bewältigen, sondern um den Umgang mit den Verbrechen der Vergangenheit. Ansonsten müßte es „to manage“ heißen. Managen bezieht sich jedoch immer auf Probleme der Gegenwart, was zum Beispiel durch „Crisis-Management“ deutlich wird. Nur die Deutschen sind auf die Idee gekommen, die Vergangenheit zu managen, also zu bewältigen. In anderen mir be- kannten Sprachen wird „VB“ mit Abrechnung (Polnisch), Aufdeckung (Russisch), Aussöhnung (Spanisch) oder Aufarbeiten (Tschechisch) übersetzt. „Vergangenheitsbewältigung“ ist genauso eine Unmöglichkeit wie „Wiedergutmachung“. Trotzdem gab es „Wiedergutmachungs“-Leistungen. Und dieses Wort wurde von jüdischer Seite akzeptiert. Als ob durch die (sicherlich umfangreichen) Zahlungen Deutschlands Leid wieder gut gemacht hätte werden können. Was fällt Ihnen dazu ein? Mir ist dazu eingefallen, daß Wiedergutmachen genauso wie Vergangenheit bewältigen zu wollen eine Anmaßung und/oder eine Überforderung darstellt. Während die einen abrechnen, aufarbeiten, versuchen damit umzugehen, verlangen die Deutschen von sich das Unmögliche. Das kann nur daneben gehen. Wer das Unmögliche fordert, setzt sich und die anderen der Gefahr aus, nichts zu erreichen. Oder sogar das Gegenteil zu bewirken. Leider scheint es jedoch keine Chance zu geben, den Begriff „VB“ durch „Aufarbeitung der Vergangenheit“ zu ersetzen. Das Wort bleibt der deutschen Sprache erhalten, die Anführungszeichen sollten jedoch zumindest hinzugefügt werden, um eine gewisse Distanz zu signalisieren. Vielleicht kann dadurch erreicht werden, daß mehr über die tatsächlich möglichen Schritte der Auseinandersetzung mit den Verbrechen nachgedacht wird. Wer nicht das Undurchführbare fordert, kann eher dazu beitragen, Konkretes zu erreichen. Dazu bedarf es einer präziseren Darstellung der erreichbaren Möglichkeiten. Daher sind auch von Historikern und Politikwissenschaftlern Definitionen zu erwarten. Wer behauptet, daß die Vergangenheit zu wenig oder gar nicht bewältigt worden ist, sollte Kriterien für die „Bewältigung“ nennen oder darauf verzichten, das Unmögliche zu verlangen. Wie hoffentlich überzeugend begründet, ist der Begriff ein Unsinn. Da er jedoch nicht nur existiert, sondern zu einem Schlüsselbegriff der letzten Jahrzehnte geworden ist, sollten wir sinnvoller mit dem Wort „VB“ umgehen. Dafür scheint es mir notwendig zu sein, Klarheit über die Bestandteile der „VB“ herzustellen: „Bewältigt“ soll natürlich nicht die Vergangenheit schlechthin werden, sondern ein bestimmtes Verbrechen. Zuerst muß also festgestellt werden, um welche Verbrechen es sich handelte. Dies ist vor allem bei angestrebten Vergleichen wichtig. Das für die Verbrechen verantwortliche Regime muß beseitigt worden sein. Dies klingt nach einer Binsenweisheit, ist jedoch etwa im Fall Chiles nicht eindeutig. Der Hauptverantwortliche ist trotz eines demokratisch gewählten Präsidenten noch immer Oberkommandierender der Armee. Die wirkliche Zäsur hat in Chile noch nicht stattgefunden. Verbrechen der Vergangenheit zu „bewältigen“ ist nur möglich, wenn die Täter nicht mehr an der Macht beteiligt sind. Ist das verbrecherische Regime nun tatsächlich Vergangenheit, muß eine Anerkennung der Verbrechen folgen. In der Regel ist diese Anerkennung mit einer Entschuldigung verbunden. Dies muß jedoch nicht immer der Fall sein. Gorbatschow hat zwar die Ermordung polnischer Offiziere eingestanden, sich für Katyn jedoch nicht entschuldigt. Ähnlich ist das Verhalten von Mitterand gegenüber Vichy. Anerkennung des Verbrechens und Entschuldigung dafür kann man als symbolische Handlungen bezeichnen. Aufgearbeitet ist damit noch nichts. Die eigentliche Aufarbeitung beginnt erst mit der Verfolgung und Aburteilung der Täter und dem Versuch einer „Wiedergutmachung“ in Form einer Entschädigung der Opfer. Die Bestrafung der Täter erfolgt durch die Justizbehörden, und die „Wiedergutmachungs“leistungen werden ebenfalls vom Staat erbracht. Diese zwei Bereiche lassen sich exakt berechnen: So und so viele Täter wurden in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zur DDR verurteilt, so und so viel wurde zum Beispiel von derselben Bundesrepublik im Vergleich zu Österreich an Israel bezahlt. Nicht berechnen läßt sich jedoch der Umgang des einzelnen mit der Vergangenheit. Was hat ein Deutscher oder ein Österreicher tatsächlich gelernt? Begreift er mehr? Ist „Vergangenheitsbewältigung“ eher nur ein moralisches Gebot als eine mögliche Abwehr gegenwärtiger Gefahren? Da bis jetzt häufig das Moralisieren überwog („Die Vergangenheit muß bewältigt werden!“), da bis jetzt meist alles auf einmal verlangt wurde (siehe oben), kann nicht erwartet werden, daß wir aus der Geschichte etwas lernen. Die Ziele im Zusammenhang mit „VB“ sollten bescheiden und nüchtern formuliert werden. Die Mitarbeit von österreichischen Zivildienstpflichtigen in ausländischen Holocaust-Gedenkstätten im Rahmen des Projektes Gedenkdienst und die jährlich stattfindenden Braunauer Zeit- geschichtstage wollen dafür ein Beispiel sein. Dr. Andreas Maislinger, Jahrgang 1955, Politikwissenschaftler und Publizist in Innsbruck.

Projekt Details

  • Datum 8. August 2016
  • Tags Pressearchiv 1992

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