Gedenkdienstpflicht, Treffpunkt Lainz, November/Dezember 1992

November/Dezember 1992

Projekt Beschreibung

Gedenkdienstpflicht

„Haft für ’Gaubeauftragten für Oberösterreich und Salzburg’ “ – Schlagzeilen der österreichischen Tageszeitungen am 11. Februar 1992. Fast täglich fanden sich während der letzten Wochen* derartige Sensationsmeldungen in den österreichischen Medien. Die Aktivitäten der österreichischen Neo-Nationalsozialisten werden von den Journalisten genau registriert. Diese Berichterstattung muß beim weniger informierten Leser (…) den Eindruck erwecken, als ob in Österreich die Gefahr einer nationalsozialistischen Machtergreifung vorhanden wäre oder die österreichische Staatspolizei besondere Erfolge beim Aufspüren dieser verschwörerischen Aktivitäten zu verbuchen hätte. Als langjähriger Beobachter der rechtsextremen Szene in Österreich war ich über diese „Enthüllungen“ nicht überrascht. Bemerkenswert finde ich hingegen, daß sowohl unsere zuständigen Politiker als auch die Journalisten über die neue Möglichkeit der Pflichterfüllung in ausländischen Holocaust-Gedenkstätten nicht berichtet haben (…) In der letzten Sitzung vor Weihnachten (1991) beschloß der Österreichische Nationalrat eine Verfassungsbestimmung, welche wehrpflichtigen Österreichern bis zum 28. Lebensjahr die Ableistung einer alternativen Gedenkdienstpflicht erlaubt. Im einzelnen heißt es u.a., daß diejenigen Zivildienstpflichtigen zur Ableistung des Zivildienstes nicht mehr herangezogen werden, welche sich für einen „durchgehend mindestens zwölf Monate dauernden Dienst im Ausland verpflichtet haben“. Dieser Dienst muß unentgeltlich sein und „die Lösung internationaler Probleme sozialer oder humanitärer Art zum Ziel haben“. (…) Diese Verfassungsbestimmung geht auf die Forderung zurück, den Zivildienst auch in ausländischen Holocaust-Gedenkstätten ableisten zu dürfen. Schon aus Gründen der Glaubwürdigkeit habe ich immer verlangt, daß dieser Dienst zwölf anstatt der für den Wehr- und Zivildienst üblichen acht Monate dauert. Diese Forderung habe ich aus der Schweiz übernommen, wo die Zivildienstbefürworter von einem „Tatbeweis“ sprechen. Außerdem erscheint eine Mitarbeit in der Anne-Frank-Stiftung in Amsterdam, dem Museum Auschwitz-Birkenau in Polen und der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem nur sinnvoll, wenn sie mindestens ein Jahr dauert. In Anlehnung an die 1955 eingeführte Wehrpflicht und die, wie erwähnt, seit 1975 mögliche alternative Zivildienstpflicht spreche ich bei der seit 1992 möglichen Verpflichtungen, in einer der drei ausländischen Holocaust-Gedenkstätten mitzuarbeiten, von der Ableistung einer „Gedenkdienstpflicht“. Obwohl die Republik Österreich gerade von ausländischen (besonders französischen) Medien immer wieder scharf angegriffen worden ist, kam niemand auf die Idee, dieses neue Zeichen der Bereitschaft, sich der Vergangenheit zu stellen, bekannt zu machen. Nach der Erklärung von Bundeskanzler Franz Vranitzky, wonach sich auch Österreicher an der Shoa (der Vernichtung der Juden; Red.) beteiligt haben und die Republik Österreich dafür auch eine Verantwortung trägt, ist dieser Gedenkdienst ein erster Schritt, dieses verbale Bekenntnis durch konkrete Taten nach außen zu dokumentieren. (…) Neben der symbolischen Bedeutung der Mitarbeit von Österreichern in den erwähnten Holocaust-Gedenkstätten geht es mir vor allem darum, wenigstens einigen jungen Menschen eine Erfahrung zu ermöglichen, welche für mein Leben von zentraler Bedeutung war. 1977 erfuhr ich von der Möglichkeit, im Rahmen der westdeutschen „Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste“ in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau mitzuarbeiten. Da es damals für Westdeutsche bereits möglich war, diese freiwillige Mitarbeit als Zivildienst angerechnet zu bekommen, stellte ich gegenüber dem österreichischen Innenministerium die gleiche Forderung. Trotz gewisser Sympathien für meine Absicht gab man mir doch klar zu verstehen, daß die gesetzliche Regelung für einen derartigen Zivildienst im Ausland nicht vorhanden ist und außerdem ein Österreicher in Auschwitz nichts zu sühnen hat. In diesem Sinn auch die Antwort des damaligen Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger. Heute wird das von unserer Regierung anders gesehen: Österreicher waren Opfer und Täter. Die Republik Österreich hat zwar von 1938 bis 1945 nicht existiert, empfindet aber auch eine Mitverantwortung für die während dieser Zeit von Österreichern begangenen Verbrechen. Einem Gedenkdienst im Sinne der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste steht also nichts mehr im Wege. Natürlich bin ich mir bewußt, daß ich ein großes Wort verwende, aber diese Monate im Museum Auschwitz-Birkenau haben mein weiteres Leben bestimmt. (…) Wenn sich die Medien nicht weiter nur auf die vermeintliche Sensation der Ewiggestrigen konzentrieren, sondern mir helfen, diesen Gedenkdienst bekanntzumachen, zweifle ich nicht daran, daß sich eine große Zahl junger Österreicher findet, welche sich zu diesem öffentlichen Gedenken an die nationalsozialistischen Verbrechen verpflichten wollen. *) Der Artikel ist vollständig in der „Jüdischen Rundschau“ Basel vom 13. Feber 1992 erschienen. Mittlerweile sind drei österreichische Zivildiener in Holocaust-Gedenkstätten tätig, u. zw. in den Gedenkstätten Auschwitz-Birkenau und Theresienstadt (CSFR), sowie bei der Anne-Frank-Stiftung in Amsterdam.  
Andreas Maislinger

Projekt Details

  • Datum 8. August 2016
  • Tags Pressearchiv 1992

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