Dienst an der Stätte der Todgeweihten, Tiroler Tageszeitung, 25.04.2004

25.04.2004

Projekt Beschreibung

Dienst an der Stätte der Todgeweihten

Julia Walder wollte im Herbst an die Uni gehen. Nun hat sie beschlossen, vorher Gedenkdienst zu leisten. In einem ehemaligen Konzentrationslager. LIENZ (sem, rai). Angst vor der Matura? Hat Julia Walder eigentlich nicht. Die Lienzerin möchte die Reifeprüfung am Gymnasium sogar mit Auszeichnung ablegen. Auf jeden Fall dürfte ihr in wenigen Wochen die Tür zur Universität offen stehen. Aber sie wird erst verspätet mit dem Studium (Musik oder Sprachen) beginnen. Die Achtzehnjährige hat sich entschlossen, ein Jahr Gedenkdienst zu leisten. Sie wird ab 1. September im holländischen Westerbork Schulklassen führen, ehemalige Todeskandidaten befragen, archivieren, Korrespondenz erledigen. 93 Sondertransporte Westerbork ist ein Museum besonderer Art. In Westerbork haben die Nazis 100.000 holländische Juden gefangen gehalten. Konzentriert für den Abtransport in die Vernichtungslager. 93 Transporte sind weggegangen – nach Auschwitz, Sobibor, Theresienstadt. In einem dieser Züge fuhr Anne Frank ihrem Tod entgegen. Julia Walder spielt Gitarre und Klavier und bildet sich als Sängerin aus. Was bewegt ein fröhliches Mädchen dazu, sich zwölf Monate mit Grausamkeit und Tod und Menschenvernichtung zu konfrontieren? „Im Winter vor zwei Jahren habe ich im Gym die Anne-Frank-Wanderausstellung gesehen“, erzählt Julia. „Sie hat mich so beeindruckt, dass ich der Ausstellung sogar nach Salzburg nachgefahren bin. Dabei hat sich der Kontakt mit den Ausstellungsleuten ergeben. Ich habe mich mit ihnen sehr gut verstanden.“ Ein Besuch im KZ Mauthausen festigte den Entschluss: Ich trage meinen Teil dazu bei, dass so etwas nie mehr passieren kann und leiste ein Jahr Gedenkdienst. Die Einrichtung besteht seit 1992 und wird vor allem von jungen Männern in Anspruch genommen. Sie können auf diese Weise ihren Zivildienst im Ausland leisten und haben die Wahl zwischen vielen Einsatzstellen, von Budapest bis Buenos Aires, von Warschau bis Washington (Näheres:www.gedenkdienst.at). Keine Maturareise Neben der Vorbereitung auf die Reifeprüfung hat Julia schon damit begonnen, Holländisch zu lernen. Die Maturareise wird auf jeden Fall ohne sie stattfinden. „Ich fange sofort nach der Matura als Serviererin an, um ein bisschen Geld zu verdienen.“ Julia Walder kennt niemanden, der Gedenkdienst leistet, sie fährt allein nach Holland und kennt auch dort niemanden. Wie die Bekannten ihre Entscheidung aufnehmen? „Da gibt es genug, die den Kopf schütteln.“ Nicht nur, weil ein Studienjahr verloren ist.

Projekt Details

  • Datum 17. September 2016
  • Tags Pressearchiv 2004

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