Die Erblast nutzen

09.10.2003

Projekt Beschreibung

Die Furche 09. Oktober 2003 Dossier Parallele Leben Braunau am Inn wird das Stigma, Adolf Hitlers Geburtsstadt zu sein, kaum loswerden. Die Unbill der Geschichte kann dennoch Anstoß zu Aufbruch sein. Von Andreas Maislinger Braunau am Inn ist ein Ort mit einer 800-jährigen Geschichte und etwa 17.000 Einwohnern. Braunau am Inn ist ein Ort, zu dessen Stichwort in der Brockhaus Enzyklopädie nach 16 Zeilen allgemeiner Information lapidar hinzugefügt wird: „In B. wurde A. HITLER geboren.“ Obwohl Adolf Hitler in „Mein Kampf“ von einer „glücklichen Bestimmung“ schreibt, „dass das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies“, hat er dieser Stadt keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Auf seiner triumphalen Reise nach Wien fuhr er zwar im März 1938 durch Braunau, fand es jedoch nicht der Mühe wert, bei seinem Geburtshaus zu halten. Braunau am Inn hatte keine Bedeutung für Hitler, und außer durch eine Ansichtskarte „Die Geburtsstadt des Führers“ und das festlich geschmückte Haus in der Salzburger Vorstadt unterschied sich dieses Provinzstädtchen nicht von hunderten anderen ähnlichen Orten in Großdeutschland. Attraktion für Ewiggestrige? Doch es war nicht anders zu erwarten, jedes Jahr am 20. April begann sich schon bald nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ein Häufchen Ewiggestriger vor „dem Haus“ zu versammeln. Dazu kamen einige wenige kleine Geschäftsleute, die an dieser „Attraktion“ ein bisschen verdienen wollten. Alles geschah verstohlen und ohne Aufwand, um so interessanter für die Journalisten von der Boulevard- und Regenbogenpresse, aber auch von seriösen Medien. Unschwer konnte man an diesem Tag wenigstens einen Braunauer finden, der aus Dummheit oder tatsächlicher Überzeugung irgendetwas vom „großen Sohn der Stadt“ daherredete. War keiner dieser notorischen Dummköpfe zur Hand, wurde einfach erfunden. Die „braune Geschichte“ musste abgeliefert, das Klischee bestätigt werden. So ging es bis zum Jahr 1989, dem 100. Geburtstag Adolf Hitlers. Behutsam und doch bestimmend begannen sich die Einwohner, allen voran der kürzlich gewählte neue Bürgermeister Gerhard Skiba, gegen diese Vereinnahmung zur Wehr zu setzen. Vor dem Geburtshaus wurde ein Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus errichtet und allen Interessenten an der Feier des runden Geburtstags zu verstehen gegeben, dass sie in Braunau nichts verloren haben. Die Enttäuschung bei den sensationshungrigen Journalisten war so groß, dass sie seitdem mit wenigen Ausnahmen darauf verzichten, am 20. April nach Braunau zu fahren. Damit wollte sich die Stadt Braunau aber nicht zufrieden geben. Es ging nicht nur um ein Stillhalteabkommen, im Gegenteil, mit der Ankündigung der 1. Braunauer Zeitgeschichte-Tage stellte sich die Kleinstadt ganz bewusst ihrem „unerwünschten Erbe“. „Unerwünschtes Erbe“ war auch der Titel der ersten, Ende September 1992 stattgefundenen Zeitgeschichte-Tage. Ausgangspunkt war die Frage, wie andere Orte mit ihrer historischen Belastung umgehen. Nicht zufällig sind es auch Kleinstädte wie Bautzen, Bergen-Belsen, Dachau, Gurs und Kielce, die einem einfallen. Im Gegensatz etwa zu Nürnberg bleiben diesen Orten keine Lebkuchen und kein bekannter Christkindlmarkt, um einen Ausgleich für den schlechten Ruf zu haben, der durch Verbrechen mit dem Ort verbunden ist. Die Oberbürgermeister von Dachau haben in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder verzweifelt versucht, ausländischen Politikern auch die Künstlerstadt zu zeigen. Staats- und Ministerpräsidenten wollten in Dachau jedoch immer wieder nur das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers besuchen. Nur das ist für sie Dachau. Sich der Belastung gestellt Ein „Glück“ für Weimar, dass das Konzentrationslager Buchenwald genannt wurde. Es hilft den Orten nicht weiter, wenn von außen nur mit Kritik, oft sogar mit Häme reagiert wird. Die zu den ersten Braunauer Zeitgeschichte-Tagen eingeladenen Bürgermeister der berücksichtigten Orte reagierten zuerst ähnlich ablehnend. Aber wie bei einer Selbsthilfegruppe hatten der Kontakt und das Gespräch zwischen Betroffenen dazu beigetragen, diese Abwehrhaltung zurückzunehmen. Beim Kontakt mit Vertretern von Orten mit belasteten Namen hatte sich immer mehr dieser Vergleich mit einer Selbsthilfegruppe aufgedrängt. Wer nicht darunter leidet, dass er zu viel isst oder trinkt, wird meist eine einfache Antwort haben, die jedoch dem Dicken oder Alkoholkranken nicht weiterhilft. Wer nicht erfahren hat, wie es ist, bei der Erwähnung seines Heimatortes sofort auf Hitler, das Konzentrationslager oder das „Gelbe Elend“ (SED-Gefängnis in Bautzen) angesprochen zu werden, wird die Braunauer und Dachauer nicht verstehen. Und das bloße ständige Ermahnen, das KZ nicht zu verdrängen, klingt von einem, der keine NS-Gedenkstätte in seinem Heimatort hat, auf Dauer nicht glaubwürdig. Außerdem ist es für jeden Nicht-Dachauer beziehungsweise für jeden Bewohner eines Ortes, mit dem nicht ein Verbrechen assoziiert wird, eine bequeme Form, den anderen, nämlich denen mit dem unerwünschten Erbe, die Aufarbeitung der Vergangenheit zeitlich wie räumlich zu überlassen. Ermutigend war es, dass einige Orte die Zielsetzung des Treffens in Braunau begriffen hatten und ihre Abwehrhaltung aufgaben. 1992 wollte die Stadt Berchtesgaden in Braunau nicht über Hitlers Obersalzberg sprechen. Vor einigen Jahren hat die Berchtesgadener Landesstiftung unter der wissenschaftlichen Leitung des Institutes für Zeitgeschichte in München die von allen Seiten gelobte „Dokumentation Obersalzberg“ eingerichtet. Der Obersalzberg, seit 1923 Hitlers Feriendomizil, wurde nach 1933 zu einem zweiten Regierungssitz neben Berlin ausgebaut. Die Ausstellung zeigt die Geschichte des Obersalzbergs und verbindet die Ortsgeschichte mit einer Darstellung der zentralen Erscheinungsformen der nationalsozialistischen Diktatur. Berchtesgaden und Braunau In Obersalzberg hat Hitler viele verbrecherische Entscheidungen getroffen. Im nur wenige Kilometer entfernten Braunau wurde er geboren. Beide Orte sind und bleiben mit Hitler untrennbar verbunden. In einer sehr sinnvollen Art haben sich die beiden Orte die Aufgaben geteilt: Obersalzberg dokumentiert die NS-Verbrechen und Braunau am Inn lädt zur Begegnung mit NS-Opfern ein. 1993 waren es ehemalige Kriegsgefangene und Fremdarbeiterinnen, 2002 erinnerte Braunau an die „wenigen Gerechten“ die unter Lebensgefahr Juden retteten. Das Projekt „Haus der Verantwortung“ und der für April 2004 geplante „Braunau Youth Exchange“ des Vereins für Dienste im Ausland richten die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart und Zukunft. Der Autor, Initiator der „Braunauer Zeitgeschichte-Tage, lebt als Politikwissenschaftler in Innsbruck.

Projekt Details

  • Datum 14. Juni 2016
  • Tags Pressearchiv 2003

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