Gegen das Vergessen
Thomas Schafferer, 22, Student
Der Bus stoppt an einem Bahnübergang. Der gesamte Verkehr hält für einen Moment inne. Langsam und schwerfällig wälzt sich eine verdreckte Diesellock an den wartenden Fahrzeugen vorbei. Die Warnzeichen blinken und die Schranken öffnen sich wieder. Neun Stunden Fahrt liegen hinter mir. Im Bus zusammen mit einer Reisegruppe aus Österreich mitten in Polen, bestehend aus Pensionisten, Volks- und Hauptschullehrer und Studenten.
An Braunkohlebergen, rauchenden Industrieschloten und toten Flüssen vorbei. Die Dämmerung liegt über dem Land. Eine Stunde später fahren wir am Ortsschild der Stadt Oswiecim vorbei. Das Industriestädtchen hat sich durch sein Chemiewerk nach oben gearbeitet. Für polnische Verhältnisse ist Oswiecim eine reiche Stadt. Die Nationalsozialisten bauten hier drei ihrer Konzentrations- und Vernichtungslager. Oswiecim wird auch Auschwitz genannt. Im Hotel Glob, dem Touristenhotel am Bahnhof von Oswiecim werden wir untergebracht. Jedes Zimmer mit Radio, Fernseher, Dusche, WC und Perserteppichen. Es ist April. Eine Nacht in Oswiecim. Geräusche, die Assoziationen mit der Vergangenheit hervorrufen. Quietschend, ratternd rollen Züge über Geleise in den Bahnhof. Hunde bellen. Waggons werden verschoben. Am Vormittag des nächsten Tages findet sich die österreichische Reisegruppe wenige Kilometer vom Hotel Glob am Parkplatz des Stammlagers – Auschwitz I ein. Auf Befehl von Reichsführer Heinrich Himmler am 27. April 1940 wurde das Stammlager Auschwitz I in den folgenden Wochen und Monaten auf dem Gelände einer ehemaligen österreichischen Kaserne errichtet.
Tausende Menschen wurden hier erhängt, erschossen, durch Giftspritzen getötet, erschlagen und vergast.
Den ersten Eindruck vom Lager kann sich unsere Gruppe im museumsinternen Kino machen. Die Schritte führen uns dann hinein, in die reale Szenerie des Grauens, fernab von Zelluloid und Film. Wir betreten das Stammlager. In das Stammlager. In den 60er Jahren wurde begonnen, im Lager Auschwitz I ein Museum einzurichten. Besuchergruppen drängen sich bereits vor dem Lagertor. “Arbeit macht frei” ist auf dem oberen Teil des Eingangstores über unseren Köpfen zu lesen. Diese zynischen Parolen hatten sich die Nationalsozialisten an nahezu alle Eingangstore von Konzentrations- und Vernichtungslagern geschrieben. An den breiten, nicht asphaltierten Straßen im Kern des Lagers an den rotorangen Backsteinhäusern vorbei. Diese Häuser waren in der Zeit des Bestehens des Lagers die Häftlingsbaracken. In den Backsteinbaracken sind heute Pavillons eingerichtet, wo jede Nation, deren angehörige in Auschwitz gefangen gehalten und ermordet wurden, dieser Menschen gedenken darf. In anderen Baracken wird hinter Glas das Haar der Ermordeten gezeigt. Ein Saal gefüllt nur mit menschlichem Haar. Eine kaum definierbare Masse. Synonym für den Massencharakter der Vernichtung und die Anonymität der Opfer. Einen Raum weiter. Brillen über Brillen übereinandergeworfen. Den Opfern gestohlen. Prothesen verschiedenster Formen zwei Räume weiter. Bein-, Armprothesen, Stützkorsette. “Weiß Georg 12.8.1935”, “Klaubauf Hana, geb. 12.8.1935”, “Neumann Jana, geb. 13.12.41”, die Koffer der Kinder, die sofort nach ihrer Ankunft vergast wurden, stapeln sich zusammen mit anderen beschrifteten Gepäckstücken in einer großen Halle hinter dem Glas. Die beschrifteten Koffer, Taschen und Körbe geben den anonymen Toten einen Namen. Es sind nicht mehr nur Nummern und Massen, die dem Besuchern vermittelt werden. Einige Baracken weiter im Innenhof des Blocks 10 und des Todesblocks Block 11, steht die “Todeswand” bzw. “Schwarze Wand”. Hier wurden Gefangene per Schnellrichter verurteilt und erschossen. Jeder Rundgang, so tiefgehend und intensiv er auch sein mag, endet an einem Ort des Lagers – dem Krematorium. Das Krematorium und die Gaskammer liegen in einem unterirdischen Luftschutzbunker, der als solcher konzipiert wurde und nur zu Beginn der Vergasungen 1942 genutzt wurde, ab 1945 wurde dort das Lazarett eingerichtet. Am Nachmittag steht Auschwitz III – Monowitz am Programm. Das Lager wurde bereits 1941 für die IG-Farben-Industrie errichtet, die eine Produktionsstätte für synthetischen Kautschuk und Treibstoff – das Buna-Werk – aufbaute. Das Lager befand sich einige Kilometer vom Stammlager – Auschwitz I – entfernt. Das Chemiewerk, in dem hauptsächlich Juden zu arbeiten hatten, steht zum Teil noch heute. Es wurde ausgebaut, zum Teil abgerissen und erweitert. Es bescherte der Bevölkerung von Oswiecim im Laufe der Zeit Wohlstand und eine sichere Beschäftigung. Das Chemiewerk ist noch heute von drei Meter hohen Beton- und Stacheldrahtzäunen umgeben. An das Lager selbst erinnert nicht mehr viel. Wir schlendern durch die Straßen des Dörfchens Monowitz, vorbei an spielenden Kindern und einer ehemaligen Fahrzeuggarage der Nazis, in dem heute ein Bauer seinen Traktor stehen hat. Hundert Meter weiter endet die Straße und das kleine Dörfchen.
Was heute die Scheune des letzten Bauernhofs ist, war die Leichen- halle des Lagers von Monowitz.
Da und dort stehen in den Feldern hinter Monowitz noch Teile des Lagerzauns verlassen und demoliert in der Landschaft herum. Einen Tag später fährt die österreichische Reisegruppe zum drei Kilometer vom Stammlager entfernt gelegenen Vernichtungslager Auschwitz II – Birkenau.
175 Hektar – so groß wie 350 Fußballfelder ist das Areal von Birkenau.
Das Lager wurde Ende 1941 bis Anfang 1942 errichtet und bis Kriegsende ständig ausgebaut. Über 250 Stein- und Holzbaracken wurden errichtet. Heute stehen nur mehr 49 Stein- und 21 Holzbaracken. Die SS ließ kurz vor der Befreiung Baracken niederreißen und niederbrennen. Nach dem Krieg wurde das Holz der Baracken von der polnischen Bevölkerung als Brenn- und Baumaterial verwendet. Wenn wir heute durch das Eingangstor beim Kommandaturgebäude gehen, sehen wir nur mehr sehr wenige Baracken. Nur mehr hundert Kamine stehen irgendwo auf den grünen Birkenauer Wiesen, umzäunt von vier Meter hohen Stacheldrahtzäunen. Entlang der Bahnschienen, die bis zum Horizont führen, dort, wo sich die Gaskammern befanden, liegt die Lagerstraße. Dar auf gehen wir, die österreichische Reisegruppe und ein polnischer Reiseführer. Eiskalt bläst uns der Wind entgegen. Wir sind gegen die Kälte geschützt, aber was müssen die Häftlinge durchgemacht haben in ihren dünnen Kleidern? Frauenlager, Kochbaracken, Waschbaracken, Latrinenbaracken, Männerlager. Über dem frischbekiesten Weg, durch das niedrige saftiggrüne Gras in das Quarantänelager. Eine hölzerne Latrinenbaracke. Früher kein stilles Örtchen. Rücken an Rücken mußten die Häftlinge hier ihre Notdurft verrichten. Innerhalb einer Minute mußte dies erfolgen. An allen Ecken und Enden werden Kerzen entzündet zum Gedenken und Erinnern. Auch hier flackern 24-Stunden Kerzen jüdischer Schulklassen am Fuße des Kamins. Entlang der Eisenbahn- schienen, auf denen die Menschen herantransportiert wurden, vorbei am Ort der Selektion – der Rampe. Von hier aus wurden Kinder, alte Menschen und Frauen mit Neugeborenen schnurstracks ins Gas geführt. Oft waren es nur sehr wenige Menschen eines Transports, die überlebten. Zum Beispiel wurden von 957 Franzosen eines Transports am 2.9.1942 16 Männer und 33 Frauen ins Lager eingewiesen. Der Rest der Menschen wurden vergast. Auschwitz II war das größte Vernichtungslager der Nazis. 1,6 Millionen Menschen wurden hier ermordet. 11 Kerzen von Steinen eingemauert zum Schutz vor dem Wind, stehen auf den Schwellen zwischen den Stahlschienen. Nur noch drei Kerzen flackern unruhig. Der Wind hat die Flammen der anderen Kerzen ausgelöscht. Die österreichische Reisegruppe erreicht die Krematorien und Gaskammern. Von den Nationalsozialisten eingerichtet, um Menschen möglichst rasch zu ermorden. Vor der Befreiung durch die Rote Armee wurden die Krematorien von den Nazis gesprengt und die Verbrennungsöfen zuvor nach Westen geschickt. Im Keller der Krematorien waren Auskleideräume und die Gaskammern. Heute künden Trümmer von der Gewalt, dem Terror, dem Haß. Graue Betonbrocken, rote Ziegelsteine, schwarze Stahlträger. Gesprengtes Chaos. Überwachsen von und Gras, zerbrechend, verfallend. Die ehemaligen Krematorien sind Ruinen. Ich stehe innehaltend vor den zerstörten Krematorien und ein Gefühl von Unverständnis überkommt mich.
Wie können Menschen einander töten? Warum ist hier getötet worden?
Draußen in den Wäldern wurden Bauernhäuser zu Gaskammern umgebaut. Die Asche der Ermordeten wurden auf Felder und in Teiche gekippt. Noch heute kann man unter der Wasseroberfläche Knochensplitter erkennen. Nicht weit von hier liegt das Effektenlager “Kanada”. Hier wurde das Eigentum der Häftlinge in dreißig Baracken aufbewahrt. Heute steht keine einzige Baracke mehr. Nur mehr ein winziger, abgezäunter und vergitterter Käfig befindet sich auf diesem Gelände mit Gabeln, Messern, Löffeln, Scheren und ähnlichem darin. Sie sind die Pseudonyme für die Opfer – Schneiderscheren, Teelöffel, Nagelscheren und Eßlöffel rosten vor sich hin und künden davon, daß hinter jedem Löffel, hinter jedem Messer ein Mensch steckt. Auschwitz steckt in den Köpfen der Besucher, wenn sie das Lager wieder verlassen. Der Reisebus fährt los. Langsam verschwindet das Lager hinter uns. Wenige Minuten später ist nichts mehr vorn Lager zu sehen. Doch das, was geschehen ist, rnu6 uns für immer im Gedächtnis bleiben. |