„Was haben die Österreicher in Auschwitz verloren?“, Aufbau

01.09.1995

Projekt Beschreibung

Aufbau (New York) 1. September 1995

,,Was haben die Österreicher in Auschwitz verloren?“

Österreich hat es sich jahrelang schwer gemacht, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Andreas Maislinger, ein engagierter Politologe, hat nach langem Kampf mit der österreichischen Bürokratie einen ,,Gedenkdienst“ eingerichtet, bei dem junge Österreicher ihren Zivildienst im Ausland ableisten – an Gedenkstätten und bei Organisationen, die die Erinnerung an die Shoah aufrechterhalten. Ein Bericht von Angelika Hörmann Oft hat er das gehört, der Daniel, und muß es immer wieder seinen fassungslosen Freunden und Verwandten erklären. Er; der coole, flippige 19jährige, dem alle Mädchen nachlaufen, geht für 14 Monate zum Gedenkdienst ins Museum nach Auschwitz-Birkenau. Vielleicht ist Daniel das Spiegelbild von Andreas, der in einem unscheinbaren Nest, in St. Georgen, zwischen Braunau und Salzburg, aufgewachsen ist. Zwischen Hitler und Mozart, wie er sagt. Ganz einfache Verhältnisse, kluge, liebevolle Eltern. Keine Bücher; keine Bilder. Kleinste dörfliche Idylle, Katholizismus, Dorfwirtshaus – hier lauschte er den Großen. Erst im Gymnasium spürt der Junge eine andere Welt – irgendwo außerhalb seines Horizonts. Er fängt an zu lesen, begeisternd, suchend. Verschlingt Martin Buber, zum Beispiel, oder Camus. Ausbruch aus der Enge. Sehnt sich nach dem Erfassen größerer Zusammenhänge. Entdeckt das Judentum für sich. Empfindet diese Entdeckung als Ergänzung zu seinem Weltbild. Heute ist Andreas Politologe. Ständig wachsam, kritisch, diskussionsfreudig. Vermutlich war er auf der Uni gefürchtet. Schüler des großen Österreichischen Politikwissenschaftlers Anton Pelinka und dem Lehrer nun entwachsen. „Erfinder“ und Begründer des Gedenkdienstes. Daniel ist, neben 17 anderen jungen Männern und zwei Frauen, einer der Schützlinge von Dr. Andreas Maislinger. Auch er will größere Zusammenhänge erkennen können, auch er spürt eine andere Welt außerhalb der seinen. Er lernt sogar Polnisch, um mehr zu verstehen. Und er will durch seinen Einsatz an einer der Gedenkstätten des Holocaust für die österreichische Mitverantwortung an den Verbrechen der Nazis einstehen. „Mit den Zivildienstgesetznovellen von 1991 und 1993 wurden die Voraussetzungen geschaffen, den Zivildienst in Form eines 14-monatigen Dienstes im Ausland zu absolvieren… Das Projekt Gedenkdienst ist eine anerkannte Trägerorgansiation im Sinne des §12b Abs. 3 Zivildienstgesetz“. Hinter dieser sachlichen Information im Prospekt des Gedenkdienstes verbergen sich 15 Jahre Kampf des Andreas Maislinger gegen die österreichische Bürokratie, die völlige Ignoranz mancher Politiker und gegen die Verständnislosigkeit der Bevölkerung. Österreich hatte jahrelang überhaupt nicht wahrgenommen, geschweige denn verstanden, wofür sich hier ein junger, politisch aufgeweckter Mann einsetzt. 1980 frisch promoviert stand er vor Bundespräsident Kirchschläger und trug ihm sein Anliegen und das dazupassende Konzept vor: Er wollte es jungen österreichischen Männern – Zivildienern – möglich machen, sich an den Stätten der Shoah, in jüdischen Zentren auf der ganzen Welt, in Archiven und Instituten, mit der Geschichte der Juden in Europa in unserem Jahrhundert auseinanderzusetzen. So eine Thematisierung fand nie statt, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. In den Schulen endete der Geschichtsunterricht, je nach Gesinnung der Lehrer, entweder kurz vor oder nach dem Zweiten Weltkrieg. Also müsse man ins Ausland gehen, um ein wahres Bild von der Geschichte zu bekommen. Und dazu müsse das Zivildienstgesetz novelliert werden. Auch junge Frauen sollten von diesem Gedenkdienst Gebrauch machen können. Verständnislos hatte ihn der Bundespräsident angeblickt: „Was haben denn Österreicher in Auschwitz verloren?“ Mittäterschaft, Schuld, Bekenntnis, Sühne – Fremdworte. „Österreich hat nichts zu sühnen.“ 1991 nach der Zivildienstgesetznovelle, sind für die Burschen und die zwei Mädchen an den Gedenkstätten diese Werte nicht mehr fremd; sie sind zeitweise so nah, daß die Wut, das Entsetzen, oft keine Worte mehr finden. Sie werden von Andreas Maislinger gut auf ihre Arbeit vorbereitet: Nach einem harten Auswahlverfahren müssen sie an den halbjährlichen Gedenkdienstseminaren teilnehmen, wo sie mit der bevorstehenden Arbeit und der Geschichte des Holocaust vertraut gemacht werden. Die Besichtigung zumindest einer Gedenkstätte ist Pflicht. Ein Jahr lang müssen sie, als Einstimmung aus den Auslandsdienst, in der Organisation des Projektes Gedenkdienstes mitarbeiten. Zumindest sollen sie die Landessprache wenigstens in Ansätzen erlernen. Für Mathias am Leo Baeck Institut in New York, wo er in die Arbeit des Institutes eingebunden ist, für Thomas in Washington oder für Judith, die in Montreal im Holocaust Memorial Center arbeitet, ist das Sich-Einlassen auf die Schrecken des Nazi-Regimes ein Meilenstein in der eigenen physischen und emotionalen Entwicklung. Andreas Maislinger leitet das Projekt mit höchstem persönlichen Einsatz, auch wen die bürokratischen Hürden immer schwieriger zu meistern sind. Das Zivildienstbudget wird äußerst knapp gehalten. Lieber ist den österreichischen Behörden immer noch, daß die jungen Männer zum Militär gehen, oder zumindest den Wehrersatzdienst im Inland absolvieren. Doch er forciert seine Arbeit noch: Der Veranstaltungskalender des laufenden Jahres ist beeindruckend: „Bring back the butterflies“ nennt sich ein gerade laufender Workshop in Theresienstadt, die Braunauer Zeitgeschichte-Tage fragen nach dem ,Notwendigen Verrat“ oder diskutieren ,,Verfreundete Nachbarn.“ Manchmal blickt Andreas Maislinger ein wenig kritisch und vielleicht auch ein wenig neidisch auf die vielen publikumswirksamen Aktionen im Gedenkjahr. Andre Heller, Plattform SOS-Mitmensch, populäre heimische Pop- und Alpenrockbands, sie alle geben Konzerte, gestalten multikulturelle Abende, machen Lichterketten und bekommen aufgrund ihrer Bekanntheit so viel Geld; er könnte damit sein Projekt wieder ein Jahr durchbringen. Direkte Arbeit ist halt nicht so politiker- und medienwirksam. Dennoch: Seine Arbeit hat Langzeiteffekt. Darauf zählt er; Musiker, Künstler, Politiker wenden sich bald darauf wieder anderen Dingen zu. Doch ein Politiker der Grünen meinte in Anspielung auf die Aktivitäten: ,,Das einzige von österreichischer Seite vorzeigbare Projekt zur Aufarbeitung der Vergangenheit ist der Gedenkdienst. So schlägt sich Andreas weiterhin mit Ministerialräten und mächtigen „Sachbearbeiterinnen“ herum, plant schon die nächsten Seminare, diesmal für Lehrer und Studenten, widmet sich vermehrt der Öffentlichkeit und freut sich über die Wirkung seiner Initiative im Ausland: Dort ist sein Arbeit anerkannt, hoch geschätzt und strahlt via österreichische Botschaften ins Außenministerium nach Wien zurück. „Seine“ jungen Leute haben sich im Ausland, bei „den Juden“, so interessiert, so aufgeschlossen präsentiert, daß sie damit auch ein wenig das Bild Österreichs im Ausland zurechtrücken konnten. Vielleicht besteht sogar irgendwann einmal die Chance, in Österreich einen Gedenkdienst ins Leben zu rufen. Eine seiner Ideen in diesem Zusammenhang: Im Geburtshaus Adolf Hitlers, ein „Dokumentationsarchiv der österreichischen Mittäterschaft“ einzurichten.

Projekt Details

  • Datum 23. August 2016
  • Tags Pressearchiv 1995

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