Visionen eines Wirtsbuben, Süddeutsche Zeitung

21./22.04.2012

Projekt Beschreibung

Süddeutsche Zeitung, 21./22.04.2012 Visionen eines Wirtsbuben Andreas Maislinger, der Leiter der Braunauer Zeitgeschichtstage, vermittelt den Österreichern mit großer Hartnäckigkeit einen kritischeren Umgang mit ihrer Historie Von Hans Kratzer Innsbruck – Am Freitag hat Andreas Maislinger bereits in aller Früh zum Telefonhörer gegriffen. Sein Anruf galt dem Hofrat Fritz Staudigl, der als Europabeauftragter des Landes Tirol nicht ohne Einfluss ist. Maislinger ist nicht nur in Österreich gut vernetzt. Er pflegt weltweit intensive Kontakte, die er für seine hehre Lebensaufgabe braucht: „Ich will, dass Österreich einen anderen Umgang mit seiner Geschichte findet.“ „Die bayrisch-österreichische Grenze hat meine Kindheit geprägt.“ Im Gespräch mit Staudigl ging es um den 88-jährigen Diplomaten Ernst Florian Winter, der am 11. Juni für seinen Einsatz um seine Heimat Österreich anno 1945 das Befreiungs-Ehrenzeichen erhalten soll. Winters Familie war 1939 von Wien nach New York emigriert, sechs Jahre später, am 4. Mai 1945, marschierte Winter als erster Austro-Amerikaner mit der 3. US-Armee nahe Burghausen ins österreichische Innviertel ein. Dort musste er unter anderem neue Bürgermeister einsetzen, weshalb er mit Gefangenen und Zwangsarbeitern Gespräche führte, um eine vertretbare Entscheidung treffen zu können. Dass Winter die Auszeichnung im Rahmen einer Gruppenverleihung erhalten soll, kann Maislinger nicht nachvollziehen. „Für so eine Persönlichkeit muss es doch eine Laudatio geben.“ Da lässt der Innsbrucker Politologe nicht locker. Maislinger arbeitet die Vergangenheitsbewältigung in Österreich und in Bayern unter Hintanstellung materiellen Strebens auf. Für seinen ehrenamtlichen Einsatz und seinen Idealismus hat er viele Auszeichnungen erhalten. Demnächst wird ihm die Friedrich-Torberg-Medaille der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien überreicht. Aus einem bayrisch-österreichischen Grenzgänger ist ein international bekannter Friedensaktivist geworden, dem ein Oscar-Preisträger wie Branko Lustig, der Produzent des Films „Schindlers Liste“, wie selbstverständlich Besuche abstattet. Der 1955 geborene Maislinger ist beim Auwirt in St. Georgen bei Salzburg aufgewachsen. „Die bayrisch-österreichische Grenze hat meine Kindheit geprägt“, erinnert er sich. Damals war es noch nicht möglich, diese Lust und Laune zu passieren. Das Schmuggeln von Spielsachen geriet zu einem ersten Abenteurer. „Unser Wohnzimmer war die Wirtsstube“, erzählt Maislinger. Dort hörte er schon als Bub mit, wenn die Gäste politisierten. Das hat ihn tief geprägt. „Von da an wollte ich immer in die Welt hinaus“, sagt er. Das Studium der Politologie und der Geschichte führte ihn, was damals noch ungewöhnlich war, von Salzburg nach Wien, Frankfurt, Berlin, Prag und Oslo. Unter anderem versuchte er die Österreicher zu einer Beteiligung an Internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz zu bewegen, wo er mitarbeitete. Der damalige Bundespräsident Rudolf Kirschläger lehnte dies aber mit dem Argument ab, ein Österreicher habe in Auschwitz nichts zu sühnen. Später freilich würdigte Kirchschläger den von Maislinger initiierten österreichischen Gedenkdienst. Maislinger hatte lange für diesen Militärersatzdienst gekämpft, der die Aufklärung über den Holocaust zum Ziel hat. Internationales Interesse wecken mittlerweile die Braunauer Zeitgeschichtstage, deren wissenschaftlicher Leiter Maislinger seit 1992 ist. Mit Braunau verbindet er früheste Erinnerungen, schon wegen der Posthaltestelle vor dem elterlichen Gasthaus. Die Endstationen der Busverbindung waren Salzburg und Braunau. Hier der Geburtsort Mozarts, 60 Kilometer davon entfernt die Heimat Hitlers. Als Maislinger 1988 als „Visiting Assistant Professor“ in New Orleans war, fragten ihn die Studenten: „Where do you come from?“ „Between Hitler and Mozart“, antwortete Maislinger. Danach herrschte Ruhe im Raum. „Aha“, dachte sich Maislinger, „diese Formel sitzt.“ Die Zeitgeschichtstage beschäftigen sich regelmäßig auch mit dem Innviertel und Bayern. 2004 ging es um den „Kleinen Grenzverkehr“ an Salzach und Inn in den Jahren 1933-38. 2005 wurde das „Braunauer Parlament“ von 1705 analysiert, das für kurze Zeit Adel, Klerus, Bürger und Bauern unter dem Schlagwort „Lieber bayrisch sterben als österreichisch verderben“ vereinte. 2006 stand Johann Philipp Palm im Mittelpunkt, jener Nürnberger Buchhändler, der 1806 auf Befehl Napoleons in Braunau erschossen wurde. Die diesjährige Tagung wird sich mit der rolle des bayerisch-österreichischen Adels beschäftigen. Gerade der Blick auf die Stadt Braunau wirft die Frage auf, ob sich Vergangenheit bewältigen lässt. „Da bin ich skeptisch geworden“, sagt Maislinger. „Vergangenheit lässt sich nur aufarbeiten. Bewältigen kann ich immer nur die Gegenwart.“ Deshalb spielt gerade Braunau eine zentrale Rolle in seinen Planungen. Seine Vision ist, dass Hitlers Geburtshaus zu einem Haus der Verantwortung umgewidmet wird, in dem sich die Jugend aus aller Welt mit Fragen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft auseinandersetzen kann. Ein mutiger Gedanke, aber wer Maislinger kennt, der ahnt, dass dieses Projekt wohl eines Tages verwirklicht werden wird.

Projekt Details

  • Datum 12. Juli 2016
  • Tags Pressearchiv 2012

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