Randbemerkungen: Mit zwei Wahrheiten leben?, Die Furche Nr. 32

11.08.1982

Projekt Beschreibung

Randbemerkungen: Mit zwei Wahrheiten leben?

Von ANDREAS MAISLINGER

„Versuch, in der Wahrheit zu leben“ nennt der bekannte CSSR-Dissident Václav Havel seinen politischen Essay. Wie andere kritische Anmerkungen zur Verlogenheit dieser sogenannten sozialistischen Staaten Osteuropas hat dieses Buch bei uns große Beachtung gefunden. Für Havel bedeutet „Versuch, in der Wahrheit zu leben“, in einem Akt existentieller Revolution die tägliche Lüge der Macht zu durchbrechen. Es geht nicht mehr um den Widerstand gegen die klassische Diktatur, es geht um einen Lebenskampf gegen die allgegenwärtige Entfremdung. Und um darin zu überleben, darf der Mensch die Lüge nicht durchbrechen. Etwa die folgende: Ein Leiter eines Gemüseladens placierte im Schaufenster zwischen Zwiebeln und Möhren das Spruchband „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Warum hat er das getan? Glaubt er etwa daran? Keineswegs! Havel glaubt – sicher zu recht -, daß die überwiegende Mehrheit der Gemüsehändler über die Texte der Spruchbänder in ihren Schaufenstern im Grunde nicht nachdenkt. Er hat es getan, weil es „dazu gehört“. Um im einigermaßen geregelten Einklang mit der Gesellschaft zu leben, unterstützt der Gemüsehändler die Lügen des Systems. Autoren, die das schreiben, werden bei uns bekannt. Sehr sogar. Und gefeiert und unterstützt werden sie – zuwenig immer noch, aber eben doch. Weil sie das Gerüst der Teil-Wahrheiten hinter dem „eisernen Vorhang“ aufzeigen. Bei der alljährlich stattfindenden sogenannten Kriegerehrung steht der österreichische Bundesheersoldat vor einem Kriegerdenkmal mit der Aufschrift: „Heimat, gedenke: Sie gaben ihr Leben für das Vaterland“. Glaubt er etwa daran, daß die Männer seines Ortes für das Vaterland gefallen sind? Für welches? Der Spruch meint Groß-Deutschland. Irgendwie weiß der junge Soldat davon, aber er fragt nicht danach. Er hat sich hingestellt, weil es „dazugehört“. Um in einigermaßen geregelten Einklang mit seiner engeren Umgebung zu leben, unterstützt er diese Lüge. Denn: für viele dieser Männer blieb das Vaterland Österreich, für das nazistische Groß-Deutschland hatten sie in Rußland nicht zu fallen. Sie gaben nicht ihr Leben für das Vaterland, die Heimat soll daher ihrer anders gedenken. Anders, aber eben doch ähnlich wie in totalitären Staaten geht es nicht um die Wahrheit. Diese wäre: Sie starben einen sinnlosen Tod. In meiner Heimatgemeinde waren die meisten dagegen, die anderen von Hitlers Glanz getäuscht. Will man ihnen ein Denkmal setzen, die Aufschrift müßte doch eher heißen: „Den Getäuschten und Opfern des Krieges.“ Jetzt, 37 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, denken doch die meisten Österreicher so. Und trotzdem stehen in allen Orten unseres Landes diese „Heldendenkmäler“. Warum ist das so? Weil man auch in Österreich nicht in der Wahrheit leben will… Doch ein österreichischer Havel hat sich noch nicht gefunden. Der Autor ist Zivildiener beim Internationalen Versöhnungsbund in Wien und Lehrbeauftragter an der Universität Innsbruck.

Projekt Details

  • Datum 7. Juli 2016
  • Tags Pressearchiv 1979 - 1990

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