Institute und Projekte: Gedenkdienst, Jahrbuch Politische Theologie

01.11.1997

Projekt Beschreibung

Institute und Projekte: Gedenkdienst

Andreas Maislinger/Kurt Leutgeb

An der Planung und Ausführung des Holocausts waren unverhältnismäßig viele Österreicher beteiligt, und das weitgehende Einverständnis der österreichischen Bevölkerung mit dem NS-Regime kostete vielen Menschen das Leben. Demgegenüber hat das offizielle Österreich immer gern auf seine Rolle als erstes Opfer Nazi-Deutschlands verwiesen Die Generation der Täter zeigt bis heute einiges Geschick im Vergessen Verdrängen und Verschweigen ihrer sieben Jahre im Reich. Durch äußerste Zurückhaltung sowohl in der Verfolgung oder gar Verurteilung von NS-Verbrechern als auch in der Anerkennung von Wiedergutrnachungsansprüchen bestätigt sich Österreich selbst, wie gering seine Schuld sei. Die Arbeit des Gedenkdienstes versteht sich als Bekenntnis zur Mitschuld Österreichs am Holocaust Möglich gemacht hat sie vor allem die persönliche Initiative des in Innsbruck lebenden Politikwissenschaftlers und Journalisten Andreas Maislinger. Als Maislinger 1978 versuchte, seine im Rahmen der deutschen Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau geleistete Arbeit in Österreich als Zivildienst angerechnet zu bekommen, wurde sein Ansinnen mit dem Hinweis auf die gesetzliche Lage abgelehnt. Doch Maislinger, der immer wieder als querköpfig, eigenwillig und hartnäckig beschrieben wird, ließ nicht locker und erreichte, daß mit der Zivildienstnovelle 1991 eine gesetzliche Grundlage für die institutionalisierte Entsendung zivildienstpflichtiger Österreicher zur Mitarbeit an Holocaust-Gedenkstätten geschaffen wurde Hinter dieser Gesetzesänderung steht zweifellos die veränderte Haltung des politischen Österreich zur Mittäterschaft am Holocaust, welche durch die Jerusalemer Rede des damaligen Bundeskanzlers Vranitzky von 1994 auch international wahrgenommen wurde. Im September 1992 trat der erste Gedenkdienstleistende seinen Dienst im Museum Auschwitz-Birkenau an. Gedenkdienstleistender, nicht etwa Gedenkdiener – so will es die Sprachregelung Maislingers, wohl um dem Eindruck dienerhaften Duckmäusertums vorzubauen und um den dienstleistungsartigen Professionalitätsanspruch, den der Verein erheben will, zum Ausdruck zu bringen Obwohl nicht alle Stellen besondere intellektuelle Qualifikationen voraussetzen, verfügen fast alle Mitarbeiter des Gedenkdienstes über akademische Bildung, was sich unter anderem durch die Notwendigkeit von Fremdsprachenkenntnissen erklärt. Ansonsten ist die Personalstruktur aber äußerst heterogen, das geistige Klima pluralistisch. Da das österreichische Innenministerium zwar einen Großteil der Kosten für die Ableistung des Gedenkdienstes im Ausland übernimmt, nicht aber die Arbeit des Vereins in Österreich finanziert, ist die Organisation vom Engagement und Einfallsreichtum ihrer Mitglieder abhängig Eine Gedenkdienststelle bekommt vom sechsköpfigen Vorstand unter Obmann Andreas Maislinger nur zuerkannt, wer über einen längeren Zeitraum hinweg im Verein mitgearbeitet hat. Aus Gründen der Glaubwürdigkeit dauert der Gedenkdienst mit vierzehn Monaten auch länger als der in Österreich achtmonatige Wehrdienst und der elfeinhalbmonatige Zivildienst. Im Zentrum der Arbeit des Vereins im Inland stehen die zweimal jahrlich in Salzburg stattfindenden Seminare, zuletzt zum Thema MAHNMALE, meistens aber zu spezifisch jüdischen Themen, dieses Mal etwa über Christoph Münz‘ Der Welt ein Gedächtnis geben. Der Gedenkdienst ist auch ein Forum der Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultur, deren Kenntnis an allen Einsatzstellen unabdingbar ist. Gedenkdienststellen gibt es seit 1992 außer in Auschwitz in Amsterdam (Anne Frank Stichting) und in der Gedenkstätte Theresienstadt, seit 1993 in Yad Vashem und im Washingtoner Holocaust Memorial Museum, seit 1994 in New York (Leo Baeck Institute), seit 1995 in Montreal (Holocaust Memorial Center) und Kiew (Zentralrat der Juden in der Ukraine) und seit 1996 in Ramat Chen (Anita Müller-Cohen Elternheim), Vilnius (Jüdisches Museum), Brüssel (Fondation Auschwitz), Prag (Theresienstädter Initiative), Los Angeles (Simon Wiesenthal Center) und Budapest (Ungarische Auschwitz-Stiftung). Dieses Jahr kommen das Spiro Institute in London, das Jüdische Historische Institut in Warschau und die ESRA in Wien dazu, ferner wird in Braunan am Inn, das dem Verein ein Büro zur Verfügung stellt, eine Zentrale mit drei Gedenkdienstleistenden eröffnet. Derzeit werden weitere Stellen in Argentinien, Polen, Frankreich, Tschechien, Kroatien, Lettland, Bosnien und Deutschland vorbereitet Die Arbeitsgebiete reichen, je nach Stelle, von Altenbetreuung über Schulprojekte bis zur Mithilfe bei Bauvorhaben als Hilfsarbeiter ebenso wie als Architekt. Der Schwerpunkt liegt aber auf der Dokumentation und Aufarbeitung der Shoa und dem Anlegen von Opferdateien. Diese Arbeit ist, bei aller gegenüber der Archivierung und Musealisierung der Greuel angebrachten Skepsis und bei altem gegenüber der administrativen Attitüde des wissenschaftlichen Mainstreams angebrachten Abscheu, die conditio sine qua non jeglicher Auseinandersetzung mit der Shoa. Nicht zu helfen, die Grundlagen des Gedenkens an den Holocaust zu schaffen und zu erhalten, hieße, sich noch einmal an seinen Opfern schuldig zu machen. Zudem vergiftet ein falsches oder fehlendes Vergangenheitskonstrukt das Leben in der Gegenwart Die Tätigkeit des Gedenkdienstes ist also keinesfalls bloß symbolisch zu verstehen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit setzt einen Prozeß des Gedenkens in Gang, dessen Dynamik jeden einzelnen, der sich ihr nicht verschließt, aufwühlt und verändert. Da wir, ob als Individuen oder als Kollektive, zum Vergessen und Verdrängen größeres Talent besitzen als zum Gedenken, dessen Objekte das Deutsche denn auch ins Getto des Genitivs abdrängt, brauchen Strukturen und Institutionen, die dem Gedenken nachhelfen All diese Strukturen und Institutionen sind ebenso unverzichtbar wie problematisch. So haftet zum Beispiel den zahllosen Holocaustfilmen und -dokumentationen, die das österreichische Fernsehen derzeit zeigt, die pudenda origo aus den Einschaltquoten und die beim Medium Fernsehen fast unweigerlich passive Rezeption wird bei den Konsumenten selten ein kritisches Bewußtsein schaffen Dem wildwuchernden Verdrängen und Verdrehen gegenüber stellt aber massenmedial entstelltes Bewußtsein eine Verbesserung dar. Zweifellos ist jede Form der Vergangenheitsbewältigung ein Versuch, das Geschehene in ein Bild zu bannen und beherrschbar zu machen. Wenn man ständig wirksamen Versuchung, das Gedenken seiner im Fall des Holocausts sonders schmerzhaften Prozessualität zu entkleiden, nicht widersteht, legt man sich eine falsche Realität zurecht. Das Übel liegt hier aber nicht in den Bildern sondern im Umgang mit ihnen. Der Gedenkdienst bemüht sich, etwa durch Seminare und seine Arbeit in Schulen, bei der Schaffung geeigneter Rezeptionsstrukturen mitzuhelfen. Die gesellschaftliche Wirkung der Arbeit des Vereins zu der unweigerlich auch die Erzeugung und Erhaltung von Bildern im weiten Sinn (Mahnmale, Gedenkstätten, Archivmaterial usw.) gehört, hängt letztlich von der Verantwortlichkeit jedes einzelnen im Umgang mit ihren Resultaten ab.

Projekt Details

  • Datum 27. August 2016
  • Tags Pressearchiv 1997

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