Projekt Beschreibung
Ergänzung einer Ortschronik
„Arbeitserziehungslager“ und „Zigeuneranhaltelager“ Weyer {Innviertel) „In Oberösterreich {Gemeinde St. Pantaleon) existierte vom 5. Juli 1940 bis ca. 7. Jänner 1941 ein Erziehungslager fur Arbeitsunwillige und Asoziale. Vom 7. Juli 1940 bis etwa Ende August 1940 war das Lager im Gasthaus Göschl in Moosach {Gemeinde St. Georgen, Bezirk Salzburg) untergebracht, vom Frühherbst 1940 (unterschiedliche Angaben) bis 7. oder 9. Jänner 1941 kam es zur Auflösung des Lagers, angeblich wegen vorgekommener schwerer Mißhandlungen von Lagerinsassen, von denen funf an den Folgen dieser Behandlung starben. In einer Anzeige an die Bezirkshauptmannschaft in Braunau vom 3. Dezember 1952 wird darauf hingewiesen, daß der NS-Gauleiter von ,Oberdonau‘, Eigruber, das Lager St. Pantaleon bzw. Weyer illegal einrichten ließ, ohne die Regierungsstellen in Berlin davon informiert zu haben. Die Lagerinsassen zog man zu Entwässerungsarbeiten (Ibm-Waidmoos) heran. Die Bewachung der arbeitsfähigen Zigeuner und deren Transport vom bzw. zum Lager besorgten Organe der Reservegendarmerie. Unmittelbar nach der Auflösung des Lagers wurde das Gasthaus Geratsdorfer in Weyer in ein Zigeunerlager für in Oberösterreich aufgegriffene Zigeuner umfunktioniert, das allerdings nur vom 18. oder 19.Jänner 1941 bis zum 2. März 1941 existierte und dann aufgelassen wurde, wie einem Erhebungsprotokoll an die Oberösterreichische Landesregierung in Linz vom 18. März 1954 zu entnehmen ist. In einem anderen Akt an die Bezirkshauptmannschaft in Braunau vom 3. August 1959 wird das Auflassungsdatum mit 29. Oktober 1941 angegeben. Es dürfte sich hierbei um den richtigen Termin handeln, da im Lackenbacher Lagertagebuch am 4. November 1941 von einer Einweisung von 301 Zigeunern aus Linz die Rede ist, als vermutlich die Zigeuner von Weyer laut Erhebung allesamt nach Lackenbach überstellt wurden. 1) Als Grund für die rasche und endgültige Auflassung des Lagers wird die geringe Arbeitsleistung der Zigeuner bei der Ibm-Waidmooser Entwässerung angegeben. Die Anzahl der nach Weyer eingewiesenen Zigeuner beträgt laut Protokoll 350, worunter sich auch Kinder befunden haben sollen. Wann allerdings die ersten Zigeuner nach Weyer gebracht wurden, konnte ich nicht eruieren. Außerdem gab es in Oberösterreich in der Nähe von Attnang-Puchheim in Steyrermühl ein NS-Arbeitslager, in dem unter anderem auch Zigeuner untergebracht waren.“2) Die Gemeinde St. Pantaleon gab 1979 (Anlaß: 200 Jahre Innviertel bei Österreich) eine 132 Seiten umfassende Chronik heraus. In dieser Ortschronik findet sich unter anderem eine Geschichte des Gerichtes Wildshut, eine Liste aller Bürgermeister seit 1848, persönliche Erinnerungen einiger Gemeindebürger, Geschichte des Postamtes, Notizen aus der Geschichte des Brauerei- und Gutsbetriebes Wildshut, der Hauptschule, des Schützenvereines und vieles mehr. Auch der Österreichische Kameradschaftsbund St. Pantaleon kommt zu Wort: ,,1939- 1945 kehrten doppelt so viele Soldaten nicht heim wie im Ersten Weltkrieg: 48 waren gefallen und 16 wurden vermißt. Unsäglicher Schmerz traf die Angehörigen, erschüttert waren Freunde und Bekannte. 1950 wurden diese Helden in einem neuen Kriegerdenkmal verewigt.“3) Von den Ermordeteten des Lagers Weyer steht in dieser Ortschronik nichts. 4) Desgleichen findet man darin nichts über die von St. Pantaleon über Salzburg und Lackenbach (Burgenland) nach Auschwitz-Birkenau transportierten Zigeuner.I
Allgemein fällt auf, daß Ortschroniken in Österreich die Zeit von 1938 bis 1945 aussparen. Dies hat eine Untersuchung der Tiroler Ortschroniken ergeben 5), und der Vergleich mit den Ortschroniken der anderen Bundesländer bestätigt diesen Eindruck. Wenn überhaupt Information über die Zeit des Nationalsozialismus gebracht wird, dann beschränkt sich diese meist auf die Liste der gefallenen „Helden“ des Ortes. Gefragt, warum diese Jahre ausgelassen werden, bekommt man meist die Antwort, dies sei noch nicht lange genug zurück, es würden noch zu viele leben. Man kann nicht darüber schreiben. Aber über andere Ereignisse, welche weniger lange zurückliegen, wird ausführlich geschrieben. Weiters wird eingewendet, daß alle Unterlagen aus dieser Zeit verbrannt oder sonstwie vernichtet wurden und man ohne Dokumente nicht berichten könne. Mir fällt allerdings auf, daß über andere Zeitabschnitte oft ebenfalls keine Dokumente vorliegen, über die Ortschroniken sehr wohl berichten, wobei sie sich auf die Erinnerungen einzelner Gemeindebürger verlassen. Nach dieser Methode hätten Bewohner von St. Pantaleon sicher über das Lager berichten können, das haben meine Nachforschungen gezeigt. Sie wurden aber von den Herausgebern der erwähnten Ortschronik nicht danach gefragt, wobei dies aus Unachtsamkeit geschehen sein kann, vielleicht aber auch aus einer falsch verstandenen Sensibilität („nur nicht daran rühren“). Ortschroniken wollen eine heile Welt vermitteln, und wer will da schon gerne, zumal der Anlaß für die Ortschronik St. Pantaleons ein feierlicher war, an die Grausamkeiten der Nazi-Zeit erinnert werden. Neben einem Beitrag über „Fremdenverkehr in St. Pantaleon“, neben einem über “ Theatergesellschaft“ ebenda hätten die Erinnerungen Katharina Lindenbauers sicher mehr als ernüchternd gewirkt: “ Wir haben da furchterlich geweint. Es war ein Novembertag, und da haben sie die Leute bloßfußig fortgetrieben. Die Kinder haben geschrien und geweint. Na, die haben auch nur mitnehmen können, was sie in der Tasche haben tragen können. Es war so grauenhaft. Na, und Flöhe haben wir so viele gehabt, daß ich heute, wenn ich daran denke, mich noch oft kratzen muß. Die Flöhe waren von den Zigeunern.“6) Derartige Erinnerungen trüben natülich jedes harmonische Bild. Verzichten Ortschroniken deshalb auf sie?II
Spätestens seit dem Fall Reder-Frischenschlager (1985) und den Auseinandersetzungen im Gefolge des Bundespräsidentenwahlkampfes 1986 ist der Eindruck entstanden, daß in Österreich “ Verdränger“ in der Mehrheit sind, daß es daran mangelt, Verantwortung fur die Beteiligung an den Verbrechen des Nationalsozialismus zu übernehmen. Die Verdrängung eines Teiles der Dorfgeschichte ist Teil der Verdrängung eines Teiles der nationalen Geschichte, die Toten des Arbeitserziehungslagers Weyer wurden vergessen wie die SS-Männer österreichischer Herkunft, die in den Vernichtungslagern mordeten, verdrängt wurden. Bundeskanzler Franz Vranitzky, im September 1987 auf Staatsbesuch in der Volksrepublik Polen, erinnerte im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz- Birkenau an die 30.000 österreichischen Opfer, nicht aber an die Täter österreichischer Herkunft, waren doch Österreicher im Vernichtungsapparat der Nationalsozialisten überproportional vertreten; Simon Wiesenthai hat diese Tatsache in seinem Memorandum für Bundeskanzler Josef Klaus 1966 aufgezeigt. Neben dieser mangelnden» Trauerarbeit“ 7) ist es die gleichgültige bis unterdrückende Politik der Republik Österreich gegenüber Sinti und Roma, weshalb Weyer vergessen wurde. Die Opfer des Lagers Lackenbach haben einen Gedenkstein. Er wurde vor drei Jahren errichtet. Nach jahrelangen Bemühungen der Österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz und anderer Vereinigungen enthüllte Bundespräsident Rudolf Kirchschläger am 6. Oktober 1984 das Denkmal. Bei dieser Denkmalenthüllung kamen Sinti und Roma nicht wesentlich zu Wort. Viele von ihnen fühlten sich zu Recht bevormundet.III
In Österreich gibt es erst schwache Ansätze einer »Geschichte von unten“, während in der Bundesrepublik bereits viele Forschungsarbeiten über die NS-Zeit nach dieser Methode entstanden sind und entstehen. Obwohl wiederum nur ein Teil dieser Arbeiten veröffentlicht werden konnte, fanden sie oft Eingang in Regionalzeitungen. Auch sogenannte Geschichtswerkstätten sind entstanden, und auf Geschichtsfesten werden Forschungsergebnisse aus der Regional-, Lokal- und Ortsgeschichte vorgestellt. In Österreich beschränken sich diese Vorhaben auf kleine, ziemlich abgeschlossene Gruppen von wenigen Interessierten. Von einer neuen Geschichtsbewegung kann keine Rede sein. 1985 förderte das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport zwar Schülerarbeiten über „Heimkehr“, mit dieser Aktion lenkte man das Interesse der Schüler allerdings auf den Zeitraum nach 1945. In St. Pantaleon haben wir uns nicht daran gehalten und auch die NS-Zeit mitbehandelt.IV
In der Bundesrepublik Deutschland besteht ein Verband Deutscher Sinti und Roma, der in den letzten Jahren viel erreichen konnte. Es sind Bücher über Zigeuner erschienen, Zigeuner haben sich zum ersten Mal auch zusammengeschlossen, um sich zur Wehr zu setzen. In Österreich fehlt dieser Zusammenschluß. Es gibt deshalb auch niemanden, der fur die österreichischen Zigeuner sprechen könnte. 8) Auch bei den ehemaligen Häftlingen des sogenannten „Arbeitserziehungslagers“ ist es ähnlich. Meist fehlt ihnen das Interesse, sich einem KZ-Verband anzuschließen, und von den ehemaligen KZ-Häftlingen werden sie nicht voll anerkannt. Dies ist jedenfalls mein Eindruck nach zahlreichen Gesprächen mit Angehörigen beider Gruppen. Schließlich hat das Wort „Arbeitserziehungslager“ für einige den Beigeschmack einer berechtigten Strafe. Wer nicht arbeiten wollte, wurde eben von den Nazis dazu erzogen. Daß die meisten Häftlinge dieser Lager wegen Kleinigkeiten oder ihres politischen Widerstandes eingeliefert wurden, scheint weitgehend unbekannt oder unberücksichtigt zu sein und zu bleiben. Keiner der Verbände der Opfer des NS-Regimes fühlt sich fur diese ehemaligen Häftlinge der Arbeitserziehungslager wirklich verantwortlich. Und den Zigeunern und den ehemaligen Häftlingen fehlt das Vertrauen, sich an diese Verbände zu wenden. Und ohne Druck eines KZ-Verbandes ist kaum zu erwarten, daß eine kleine Gemeinde darauf hinweist, daß es auf ihrem Gebiet ein „kleines Konzentrationslager“ gab. In Lackenbach kam die Anregung von außen. 9)V
Auch die Zeitgeschichtsforschung ist nicht aus der Verantwortung zu entlassen. Ohne eine genaue Analyse der veröffentlichten Forschungsergebnisse geben zu können, fällt doch auf, daß eine gewisse Schwerpunktsetzung bei der Geschichte der Arbeiterbewegung und eine Vernachlässigung der Regional- und Ortsgeschichte zu bemerken ist. Bei der Durchsicht der Veröffentlichungen entsteht der Eindruck, als ob bewußt zwei verschie- dene Welten aufrecht erhalten würden: die eine ist die der Zeitgeschichtler, die andere die der Ortschronisten. Inhaltlich bestimmt wird die eine von der Erforschung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus und die andere von der notwendigen „Pflichterfüllung“. Beispiel für die eine sind die Dokumentationen über „Widerstand und Verfolgung 1934-1945″ 10), Zeugnis für die Tätigkeit der anderen das in jedem Ort errichtete Kriegerdenkmal, mit dem das Gegenteil behauptet wird: Nicht die, die Widerstand leisteten, sondern die, die im Rock der Deutschen Wehrmacht für Adolf Hitler das Leben gaben, sollen in die Geschichte eingehen. Mit ganz wenigen Ausnahmen fehlt der österreichischen Zeitgeschichtsforschung das Bestreben, bis hinein in die kleinste Gemeinde zu wirken. Die Veröffentlichungen wenden sich größtenteils mehr oder weniger bewußt an einen engen Leserkreis. Es gibt Ausnahmen, das steht fest, aber jeder scheint in seiner Welt bleiben zu wollen.VI
Soweit meine fünf Erklärungsversuche. Ermutigt durch meine Arbeiten über den SA-Putschversuch im Juli 1934 in der Nachbargemeinde Lamprechtshausen 11), begann ich mich vor etwa drei Jahren auch mit St. Pantaleon zu beschäftigen. Aus der Literatur uber die NS-Zeit in Österreich hatte ich zumindest einige wenige Informationen. In “ Widerstand und Verfolgung in Oberösterreich 1934-1945″ 12) finden sich einige Dokumente über die begangenen Grausamkeiten und Morde, welche eingangs erwähnt wurden. Bei den mir notwendig erscheinenden Ergänzungen ging es jedoch nicht ausschließlich um weitere Fakten, sondern vielmehr um das Wissen der Einwohner dieser Gemeinde und um ihre Fähigkeit und Bereitschaft, sich zu erinnern. Mir wurden immer wieder Beispiele vor Augen gehalten, wonach kaum eine Gemeinde bereit ist, sich ihr „kleines KZ im eigenen Ort“ vorzeigen zu lassen. Obwohl mir natürlich auch einige den guten Rat gaben, nicht viel herumzustöbern und die Sache auf sich beruhen zu lassen, bemerkte ich bald ein großes Interesse. Und zwar von verschiedenster Seite: Eine Frau, welche in der Nähe des „Zigeuneranhaltelagers“ arbeitete, berichtete offen über ihre schmerzlichen Erinnerungen. Ich habe sie oben bereits kurz zu Wort kommen lassen. Sie war sogar froh, endlich einmal darüber sprechen zu können. Bereitschaft zur Mitarbeit und Unterstützung fand ich auch beim Bürgermeister und beim Direktor der Hauptschule. Im April 1985 konnte daher in der Hauptschule ein vom Unterrichtsministerium unterstütztes Projekt ,,40 Jahre Zeitgeschichte“ mit dem Schwerpunkt Nationalsozialis- mus durchgeführt werden. Im an die Eltern der Schuler weitergegebenen Bericht veröffentlichte ich folgenden Appell, um ein Jahr später eine Ausstellung in der Hauptschule zu organisieren. Ich zitiere diesen Aufruf ganz, weil er eine Art Grundsatzprogramm der folgenden einjährigen Nachforschungen darstellte: „Beim Wort ,Geschichte‘ denkt man entweder an die Geschichte eines Alexander des Großen, Cäsar, Kaiser Maxlmilian oder Franz Joseph I. Ältere Menschen denken auch an ihre eigenen Erfahrungen im I. oder II. Weltkrieg. Auch bei diesen persönlichen Erinnerungen überwiegen die ,großen Ereignisse‘ der Schlachten. Auf die Idee, daß es Geschichte auch bei uns zu entdecken gibt, kommen die meisten nicht. Die Schüler der Hauptschule St. Pantaleon sind mit ihren Lehrern darauf gekommen. Für sie findet Geschichte nicht mehr nur in den großen Städten statt, sondern auch und gerade in ihrer engsten Umgebung. Dabei ist diese Geschichte nicht nur alltäglich, sondern durchaus auch ,groß‘, Jedenfalls bezogen auf das Leid, welches Menschen anderen Menschen zugefügt haben. Um die Greuel des NatIonalsozialismus der Jahre 1938 bis 1945 kennenzulernen, sind die Schuler zwar in das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen gefahren; nichts anderes, nur kleiner (und als ,Arbeitserziehungslager bezeichnet) haben sie auch im benachbarten Weyer vorgefunden. Mit dem Unterschied allerdings, daß diese Geschichte noch nicht geschrieben wurde. Es fInden sich über das Lager Weyer nur wenige Aufzeichnungen in den Geschichtsbüchern. Die Geschichte des Zigeunersammellagers ist überhaupt noch nicht geschrieben worden. Dabei sind von Weyer aus einige hundert Zigeuner in den Tod nach Mauthausen und Auschwitz-Birkenau geschickt worden. Die Geschichte dieser Zigeuner ist noch zu schreiben. Da wahrscheinlich keiner überlebt hat, wird es jedoch sehr schwierig sein. Es geht daher auch. nur, wenn Menschen aus der Nachbarschaft Weyers über Ihre Erinnerungen berichten. Die Arbeit der Schüler und Lehrer aus St. Pantaleon sollte daher nur der Anfang gewesen sein. Ohne Vorwurf an diejenigen, welche damals nichts dagegen getan haben, als ,Asoziale‘ beim Verbauen der Moosach geschlagen und ermordet wurden, möchte ich die Burger der Gemeinde St. Pantaleon bitten, uns über diese Zeit zu berichten. Es soll keiner angeklagt, aber uber diese Zeit aufgeklärt werden.“ 13) Zu Pfingsten 1986 war diese Aufklärung angesagt. Während der zwei Tage kamen über 200 Personen, und nur wenige meinten, ich sollte mich über andere Diktaturen aufregen und endlich damit aufhören, in der Vergangenheit herumzukramen. Besonders während des Schlußgespräches kam noch eine Fülle von Hinweisen auf die beiden Lager. Noch Wochen danach beschäftigte diese Veranstaltung die Menschen mehr als vieles andere, was sonst Gesprächsstoff im Dorf bietet. Was die Bereitschaft zur Aufarbeitung und “ Vergangenheitsbewältigung“ 14) betrifft, möchte ich jedoch trotzdem noch sehr vorsichtig sein. Es könnte auch ein Strohfeuer gewesen sein. Was jedoch sicherlich bleibt, ist der Umstand, daß einige Menschen zum ersten Mal Gelegenheit hatten, ihre Erinnerungen auszusprechen. Im Gegensatz zu den alten Kameraden der Deutschen Wehrmacht und den alten Parteigenossen haben nämlich Gegner des Nationalsozialismus im Dorf kaum oder gar keine Möglichkeit, ihre Meinung zu äußern. Im Gasthaus dominiert die Erinnerung an den Krieg. Wer nicht an der Front war, kann nicht mitreden. Und wer seine „Pflicht“ nicht erfüllte, wird nicht so leicht akzeptiert. War einer gar im KZ, so ist es besser für ihn, den Mund nicht aufzumachen.15) Dabei war St. Pantaleon sicherlich nicht stark nationalsozialistisch eingestellt. Die$er Ort war eher christlich-sozial bis monarchistisch, und der NS-Ortsgruppenleiter und Bürgermeister war eher unbeliebt. Trotzdem entstand nie eine Stimmung gegen den Nationalsozialismus und für den Widerstand. Schon gar nicht nach 1945. Die ehemaligen Soldaten der Deutschen Wehrmacht und der österreichischen Armee des Ersten Weltkrieges haben ihren Kameradschaftsbund mit jährlicher „Heldenehrung“ auf dem Friedhof. Der ehemalige KZ-ler kann zu Hause bleiben oder seine Kameraden in Wien besuchen. Im Rahmen der Projektwoche der Hauptschule kam Jaro Dvorak als ehemaliger politischer Häftling des Konzentrationslagers Dachau erstmals im eigenen Ort zu Wort. Und ein Jahr später viele andere, welche wie er gegen den Nationalsozialismus waren. Das ist schon eine Ergänzung der Ortschronik. Zwar noch nicht geschrieben, aber ausgesprochen. Franz Jägersrätter, welcher nur wenige Kilometer weiter in St. Radegund lebte, hat jedoch bis heute fast nur Gegner. Die meisten St. Pantaleoner können und wollen nicht verstehen, daß Jägerstätter recht hatte, weil er es ablehnte, in einem ungerechten Krieg zu kämpfen und damit dem Terrorregime der Nazis zu dienen.16) Aber es ist nicht nur dieser Prozeß des gemeinsamen Erinnerns in Gang gekommen. Die Ausstellung der Fotos l7) aus dem „Zigeunersammellager“ Weyer brachte konkrete neue Informationen, welche den Historikern bis jetzt aus den noch vorhandenen und zugänglichen Akten nicht bekannt waren. Ein Beispiel: Frau Theresia Hamberger arbeitete laut Arbeitsbuch vom 29.Jänner 1941 bis 15. Feber 1942 im Zigeuneranhaltelager Weyer l8) in St. Pantaleon. Wegen dieser Eintragungen ist Frau Hamberger zu glauben, wenn sie berichtet, daß sie mit den etwa 300 Zigeunern aus Weyer über Salzburg nach Lackenbach fuhr. Die Zeitgeschichtsforschung ging immer davon aus, daß der Abtransport über Linz und einige Monate früher geschah. Auch über die Unterschiede in den verschiedenen Lagern war bis jetzt wenig bekannt. Den Eindruck, welchen die Fotos aus dem Lager Weyer im Vergleich zu den Lagern in Salzburg und Lackenbach vermitteln, wurde durch die Schilderung bestätigt. Auch war nicht bekannt, daß Zigeuner aus Auschwitz-Birkenau nach Weyer geliefert wurden. Frau Hamberger beschrieb jedoch die eintätowierten Nummern, welche eindeutig darauf hinweisen, daß diese Menschen tatsächlich in Auschwitz-Birkenau waren. Bei aller Vorsicht beim Umgang mit derartigen mündlichen Quellen kann doch davon ausgegangen werden, daß durch „oral history“ 19) das Bild über diese „kleinen KZ’s“ vervollständigt werden kann. Dies besonders dann, wenn die Möglichkeit besteht, die mündlichen Informationen an Hand von Dokumenten zu überprüfen. Außerdem decken sich die voneinander unabhängig gemachten Aussagen über Einzelheiten. So schildert etwa Frau Lindenbauer den Abtransport der Zigeuner ähnlich wie Frau Hamberger. Lindenbauer habe ich bereits eingangs zitiert. Hamberger sagt zum Abtransport: ,Ja, wir haben viel Schnee gehabt, wie wir sie weggebracht haben. Einige hätten ja marschieren müssen bis Burmoos, weil aber so viel Schnee war, haben wir sie mit Lastwagen hingebracht. Das war im Jänner 1942.“ 20) Hamberger hatte mir aber auch erzählt, daß nach dem Krieg eine Zigeunerfamilie bei ihr war, welche sie aus dem Lager kannte. Einen weiteren Hinweis habe ich von Romani Rose, dem Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Sinti und Roma, erhalten: Frau Hildegard Lagrenne soll jemanden auf den Fotos aus dem Lager erkannt haben. Leider habe ich von Frau Lagrenne noch keinen konkreten Hinweis erhalten, 2l) Es scheint jedoch möglich zu sein, Überlebende zu finden. Wenn dies der Fall ist, werde ich das Gespräch über das ehemalige „Zigeuneranhaltelager“ fortsetzen und die Überlebenden zu Wort kommen lassen. Diesem Zweck dient auch die Veröffentlichung dieses Aufsatzes im Oberösterreich-Heft dieser Zeitschrift. Ich erhoffe mir Hinweise und bin für eine Nachricht sehr dankbar, 22) 1986 kam erst ein ehemaliger Häftling des „Arbeitserziehungslagers“: Alois Kreil berichtete den Gesprächsteilnehmern über die Unmenschlichkeiten, welche ihm damals von jungen Männern aus der engsten Umgebung angetan wurden. Nur zwei wollten es nicht glauben und begannen über die Schuld der Russen zu sprechen. Für die anderen war es ein Stück Ortsgeschichte, welches sie genau so beachtet sehen wollten wie die bereits niedergeschriebenen Teile. Mir ging es darum, an Hand dieser Gemeinde einige Strukturmerkmale der Zeitgeschichtsforschung und der Vergangenheitsbewältigung auf unterster geographischer Ebene aufzuzeigen. Trotz der vielfach auftauchenden Behinderungen bei der Erforschung des Nationalsozialismus „vor Ort“ scheint es zumindest einige wenige Ausnahmen zu geben. Nicht alle Bürgermeister sind gegen diese Beschäftigung. Dies sei deshalb betont, weil einige Bürgermeister bekannt wurden, welche sich gegen eine derartige Aufarbeitung zur Wehr setzten. Vielleicht gelingt es jedoch in St. Pantaleon beispielhaft, die Ortschronik für die Jahre 1938 bis 1945 zu ergänzen? Dies wäre nicht nur für diese Gemeinde zu wünschen, sondern auch ein Beispiel für tausende andere Gemeinden Österreichs. Nach der Ergänzung der Ortschronik müßte dann noch das Kriegerdenkmal ergänzt werden: Ergänzt um die Opfer, welcher der örtliche Kriegerverein in den seltensten Fällen gedenkt. Ich schreibe bewußt ergänzt und nicht ersetzt, weil ich nicht davon ausgehe, daß es uns weiterhilft, wenn die bestehenden Denkmäler abgerissen werden. Ein Denkmal kann auch als Mahnung dienen, gerade wenn es auf ein fragwürdiges Lob von „Heldentum“ hinweist. Es handelt sich ja bei der überwiegenden Zahl schlicht um in die Irre geführte Opfer eines verbrecherischen Krieges. Wir können nur hoffen, daß problematische Begleiterscheinungen in den Diskussionen um den österreichischen Bundespräsidenten das Verständnis für diese Fragen nicht beeinträchtigen, denn gerade auf lokaler Ebene würde sich die Fortsetzung dieser Arbeiten sehr lohnen. Fußnoten:1) Zum Lager Lackenbach: Erika Thurner: Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich. (Veröffentlichungen der Zeitgeschichte, 2. Band.) Wien-Salzburg (Geyer) 1983. Dies.: Kurzgeschichte des Nationalsozialistischen Zigeunerlagers in Lackenbach (1940 bis 1945), Eisenstadt 1984.
2) Herbert Michael Burggasser: Zigeuner in Österreich, Diplomarbeit Universität. Wien 1980/81.
3) St. Pantaleon -200 Jahre Innviertel bei Österreich, St. Pantaleon 1979, S. 120.
4) Siegwald Ganglmair: Das „Arbeitserziehungslager“ Weyer im Bezirk Braunau am lnn 1940-1941. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte Oberösterreichs, in: Oberösterreichische Heimatblättter, 37. Jg. 1983, Heft 1.
5) Andreas Maislinger : “ Tirol am Atlantischen Ozean“ -Die Jahre 1938 bis 1945, in: Andreas Maislinger- Anton Pelinka (Hg.): Handbuch zur Geschichte Tirols, Band 4, Zeitgeschichte, Innsbruck (in Vorbereitung).
6) Gespräch mit Katharina Lindenbauer am 17. März 1985. Archiv Andreas Maislinger SNS 10.
7) Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München 1967. Margarete Mitscherlich: Erinnerungsarbeit – Zur Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern. Frankfurt am Main 1987.
8) Erste Ansätze zu einer Organisierung gab es während der Tagung „Minderheitenpolitik -Vom Umgang mit Ausländern und ethnischen Minderheiten“ der Gesellschaft für Politikwissenschaft im Juni 1987, Dr. Karl Renner-Institut, im Arbeitskreis Sinti und Roma.
9) Vom Bundesministerium für Inneres und der Österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz.
10) Bis jetzt sind Dokumentationen über Wien (3 Bände), Burgenland (1 Band), Oberösterreich (2 Bände), Tirol (2 Bände) und Niederösterreich (3 Bände) erschienen. In Bearbeitung ist die Dokumentation über Salzburg. Für Vorarlberg hat die Johann-August-Malin-Gesellschaft „Von Herren und Menschen -Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg 1933-1945“, Bregenz (Fink) 1985, herausgegeben.
11) Andreas Maislinger:Spuren in die Vergangenheit, in: Oberösterreichische Heimatblätter, 40.Jg. 1986, Heft 2; ders. :Zeugen eines Putsches -Lamprechtshausen im Juli 1934 (in Vorbereitung).
12) Widerstand und Verfolgung in Oberösterreich 1934-1945, hgg. vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Wien 1982, Band 2, S. 493- 504.
13) 40 Jahre Zeitgeschichte, Hauptschule St. Pantaleon 15.-19.4. 1985. Direktor Karlheinz Schönswetter, 5120 St. Pantaleon, Oberösterreich.
14) Informationen zur Vergangenheitsbewältigung sind erhältlich bei der Gesellschaft für politische Aufklärung (GfpA), Innsbrucker Sekretariat, Mag. Reinhold Gärtner, Innrain 52, 6020 Innsbruck, (0512) 724-3099. Unter anderem organisiert dee GfpA jedes Jahr zu Ostern eine Fahrt in die Gedenkstätte Auschwitz- Birkenau.
15) Andreas Maislinger : „‚, ‚eigentlich hatte ich schon alles bewältigt“, Gespräch mit Jaro Dvorak! 62 Jahre, 5 Jahre politischer Häftling Im KZ Dachau, lebt als Künstler in St. Georgen bei Salzburg; in: Jugendliche & Rechtsextremismus, Schulheft 31/1983.
16) Erna Putz: Franz Jägerstätter. „, ..besser die Hände als der Wille gefesselt. ..“, Linz-Wien (Veritas) 1985.
17) Die von Tischlermeister Georg Felber zur Verfügung gestellten Fotos wurden von der Gesellschaft für politische Aufklärung zu einer kleinen Ausstellung zusammengestellt. Diese kann vom Wiener Sekretariat, Dr. Andreas Pribersky, Stumpergasse 56, 1060 Wien, (0222) 59991-169, angefordert werden.
18) Archiv Andreas Maislinger SNS 15/2.
19) Zur „oral history“: Gerhard Botz – Josef Weidenholzer: Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung. Eine Einführung in Arbeitsweisen und Themenbereiche der Geschichte „geschichtloser Sozialgruppen, Wien-Köln (Böhlau) 1984. Hubert Ehalt (Hg.): Geschichte von unten. Fragestellungen, Methoden und Projekte einer Geschichte des Alltags, Wien-Köln (Böhlau) 1984.
20) Gespräch mit Theresia Hamberger, Archiv Andreas Maislinger SNS 15/2.
21) Wer sich für die Situation der Sinti und Roma im deutschen Sprachraum interessiert, kann sich an folgende Adressen wenden: Gesellschaft für bedrohte Völker, Postfach 2024, D-3400 Göttingen. Verband Deutscher Sinti und Roma, Bergheimer Straße 26, D-6900 Heidelberg 1.
22) Dr. Andreas Maislinger, Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck, Innrain 100, 6020 Innsbruck.
Projekt Details
- Datum 7. Juli 2016
- Tags Pressearchiv 1979 - 1990