Bis in den Schlaf, Die Presse, 22.05.1993

22.05.1993

Projekt Beschreibung

Bis in den Schlaf

Der Tiroler Georg Mayer arbeitet im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz als Zivildiener

Von Bernhard Knoll Ungemachtes Bett, weisse, selbstgestrichene Wände. Wörterbücher (deutsch-polnisch) liegen neben der halbvertrockneten Zimmerpflanze. Ein Stadtplan hängt verknittert neben Postkarten von Freunden, die Georg Mayer hier regelmässig besuchen – ein Studentenbiotop. „Am Morgen“, erzählt Mayer, „geht sich gerade ein Frühstück a la Americaine aus: Kaugummi und eine Marlboro.“ Das Innenministerium hat für den 26jährigen Tiroler eine Wohnung im achten Stock eines realsozialistischen Betonbunker gemietet, umgerechnet 1000 Schilling Miete zahlt Österreichs erster Gedenkdiener für 60 Quadratmeter Wohnfläche. Insgesamt wurden für den einjährigen Gedenkdienst 100.000 Schilling veranschlagt. Für Kost, Logis und ein Taschengeld, das auf polnische Verhältnisse umgemünzt wird. Mayer wirkt an der „Lösung internationaler Probleme sozialer und humanitärer Art“ mit. So heisst es zumindest im Paragraph 12b des 1992 novellierten Zivildienstgesetzes. Gearbeitet wird in Holocaust-Gedenkstätten: Yad Vashem, das Anne-Frank-Museum in Amsterdam, Theresienstadt, Auschwitz, das Holocaust Memorial Museum in Washington stehen zur Disposition. Das Auswahlverfahren hat Georg Mayer absolviert, seit 1. September ist er im polnischen Oswiecim, 50 Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt. Wie Deutschland mit der „Aktion Sühnezeichen“ ist nun auch Österreich aktiv in der Erhaltung der Gedenkstätten Auschwitz-Stammlager und Auschwitz-Birkenau eingebunden. Der Aufzug zittert langsam an den dunklen Stockwerken vorbei, draussen hat es zu regnen begonnen. Nebel hängt über der russigen Stadt. Zu Fuss geht Georg knapp eine halbe Stunde zu seinem Arbeitsplatz. Bizarre Warenkombinationen in den Geschäften, elektronisches Funselgefunkel: kleine blaue, rote und grüne Lämpchen lassen Wollmützen neben Kinderspielzeug und Kosmetika kurze Schatten werfen. Vom Übergang zur Marktwirtschaft ist in Oswiecim noch nicht allzuviel zu spüren. So haben die Supermärkte noch keinen Namen. Einfache Zahlenkombinationen ersetzen Firmenlogos, denn zur Zeit der Planwirtschaft konnte man getrost auf schicke Schaufenster und corporate identity verzichten. Und heute gehen die Leute noch immer zum Sechsundfünfziger, wenn sie Elektrogerät, Glühbirnen oder Schraubenzieher brauchen. Eine Mauer zieht sich um das Gelände der westpolnischen Industriestadt. Oswiecim wird sich von seiner Vergangenheit nicht lösen können. Der Name Auschwitz steht für das Vernichtungslager, das hier zwischen 1940 und 1945 von Deutschen errichtet war. Auf Anordnung höchster NS-Funktionäre wurden in dieser Zeit 1,3 Millionen Menschen ermordet. Im Block 24 des ehemaligen Stammlagers, dem Auschwitzer Museumsarchiv, befindet sich Georg Mayers Dienststelle. Im ersten Stock war ein Bordell eingerichtet, durch den Spion, der den Voyeurismus der Schergen befriedigte, kann man heute noch ins Zimmer sehen. Die fünf Mitarbeiter der Abteilung sind mit modernster Technik ausgestattet: Computer, Scanner und Laserdrucker sind unersetzlich geworden. „Hier bin ich zum ersten Mal in meinem Leben Österreicher, habe das Gefühl, etwas für mein Land zu tun“, erklärt Mayer. Er sitzt vor dem Computer, filtert Informationen aus dem „Sterbebuch 1941, Standesamt Auschwitz“, drückt Buchstaben in die Tastatur: „Häftlingsnummern, Namen, Todesursachen. „Die Mörder von Auschwitz“, sagt der Gedenkdiener, „haben mit derselben Akribie über ihre Verbrechen Buch geführt, mit der sie auch die Blumenbeete neben den Gaskammern angelegt haben.“ In ein paar Monaten werden die Daten miteinander verknüpft. Dem Ziel, mit Hilfe von Transportlisten, Aufnahmeprotokollen und Sterbeurkunden, Häftlingsschicksale zu dokumentieren, wird man einen Schritt näher kommen. Von seinem Zimmer blickt der Tiroler auf das zynische Logo „Arbeit macht frei“, das sich, eingeschrieben in Metallstreben, über das Lagertor windet. „Manchmal ist das einfach ein Job, aber es passieren Dinge, die mich aus dem Gleis werfen: Diese Namen ohne Gesichter verfolgen mich bis in den Schlaf, da werden Zahlen zu Individuen.“ Ende letzten Jahres hat das Archiv zwei Gedenkbände für die hier ermordeten Sinti und Roma veröffentlicht. Der Zivildiener hat die Texte ins Englische übersetzt. Die Freude über die erste Publikation sei allerdings getrübt, erzählt Mayer: „Die Originale zerfallen, Grundrisse der Gaskammern sind beschädigt, Wasser und Licht haben die Papiere angegriffen. Den Wettlauf mit der Zeit können wir nicht gewinnen.“ Mit dem Scanner lassen sich die Originale auf eine optische Platte speichern. Aus verbrannten Ecken, teilweise verrotteten Rändern und vermoderten Seiten kann so noch Information gepresst werden. Jan Parcer, stellvertretender Archivleiter: „Wenn die Sterbebücher zerfallen sind, werden die Bytes auf der Festplatte zum Original. Was wir tun, ist nicht nur Rekonstruktion und Dokumentation. Wir versuchen, den Schaden zu begrenzen.“ Draussen hat es zu regnen aufgehört. Die Lagerstrassen, die zwischen den zweistöckigen Backsteinziegelbauten, den „Blocks“, verlaufen, sind lehmig geworden. Die Blocks sind streng symmetrisch angelegt. Zur besseren Überblickbarkeit. Am Ende jeder Strasse erhebt sich ein schwarzer Turm mit quadratischer Grundfläche. Dahinter ist zehnreihiger Stacheldrahtzaun gespannt, die nach innen gekrümmten Spannpflöcke ragen drei Meter in die Höhe. Alle paar Meter sind Lampen montiert. In den Blocks sind heute Vitrinen, Graphiken und Photos. Die Bauwerke sind Ausstellungsobjekt und gleichzeitig Behälter für weitere Dokumente des Schreckens. An die Vitrinenscheiben hat sich Kondenswasser gelegt. Dahinter sind gewobene Spannteppiche ausgestellt. Nach dem Krieg wurden sie in einer deutschen Textilfabrik sichergestellt. Sie sind aus Frauenhaaren. Nicht bloss die Papiere, auch die Relikte der Opfer sind – 48 Jahre nach der Befreiung durch die Rote Armee – dem Verfall preisgegeben. In den düsteren, kalten Räumen des Museums werden Temperaturschwankungen bis zu 40 Grad gemessen, der Atem von mehr als einer halben Million Besuchern jährlich kondensiert auf Haarbergenm Lederkoffern und verrostetem Essbesteck. Wenn die Sterbebücher zerfallen sind … „Wir benötigen dringend Heizungen und Klimaanlagen“, konstatiert Krystyna Oleksi, die Vizedirektorin der Gedenkstätte, „im Winter tropft es hinter den Vitrinen auf die 79 Kubikmeter Schuhe. Geht der Verfall weiter, haben wir in zwanzig Jahren nur noch Schimmel und Rost.“ Halina Jastrzebska, seit 1978 mit Führungen betraut und heute Archivmitarbeiterin, ortet auch im Lager 2 Auschwitz-Birkenau, an der Peripherie von Oswiecim gelegen, Verfall: „Die Ziegelbauten sind im Originalzustand erhalten, ohne tiefe Fundamente. Heute sehen wir schiefe Wände, bröckelnden Verputz.“ Das frische Hakenkreuz um Pritschengestell Feuchtigkeit und Schadstoffe in der Luft fressen an der Substanz. Die Wohnbaracken wurden einfach auf das sumpfige Gelände gestellt, als Fussboden diente festgestampfte Erde. Durch die klapprigen Bretter pfeift der Wind. Georg Mayer zeigt auf herausgebrochene Planken, morsches Material und verblichene Lettern. Frisch ist bloss das zwei mal zwei Zentimeter grosse Hakenkreuz im Pritschengestell, das ein Tourist in das Birkenholz geschnitzt hat. Notdürftig wurde es überkritzelt. In den Latrinenlöchern liegen heute Coladosen, Becher und anderer Müll. Mayer: „Pietätlose Besucher sind wir gewohnt. Vor drei Monaten haben Neonazis vor der Todeswand Parolen skandiert. Wir haben sie aufgefordert, die Stätte zu verlassen – erfolgreich.“ Im Lager sind ein Dutzend Arbeiter mit Reparaturen beschäftigt. Hunderte Spezialisten wären jedoch nötig, um die 155 Gebäude zu erhalten. „Beim Betreten der Ruinen droht Einsturzgefahr“, warnt das Schild neben den Betonbrocken, den Resten der gesprengten Krematorien und Gaskammern. Auf rund 500 Millionen Schilling schätzen Gutachter die Konservierungskosten. Dort, wo einst Hunderte Baracken standen, sind nur noch rote Kamine zu sehen, ein Wald von Schornsteinen. Da und dort verblasst das Grauen, zerspringt, splittert, bröckelt, bricht zusammen“, berichtete ein deutsches Fernsehteam nach einem Besuch vor einem Jahr. Von der UNESCO wurde Auschwitz-Birkenau auf die Liste der gefährdeten Kulturgüter aufgenommen. „Was nützt das“, fragt sich Halina Jastrzebska, „das eigentliche Problem bleibt das Geld.“ Aus Warschau bekommt das Museum jährlich 18 Millionen Zloty, umgerechnet rund 13 Millionen Schilling. Die Substanz kann damit nicht gesichert werden. Bis zum Jahr 1996 plant die Bundesrepublik Deutschland, zehn Millionen Mark nach Polen zu überweisen. „Mit dieser Summe könnte man in der BRD nicht einmal hundert Meter Autobahn bauen“, kalkuliert Vizedirektorin Krystyna Oleksi. Und auch wenn das Geld ankomme, werde man damit nur einen Bruchteil der anstehenden Rekonstruktionsmassnahmen durchführen können. „Für einige Objekte ist es jetzt bereits zu spät. Und jeden Tag verrottet ein bisschen mehr.“

Projekt Details

  • Datum 24. August 2016
  • Tags Pressearchiv 1993

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