Frankreich im Ausnahmezustand
Nach dem Angriff auch Charlie Hebdo im Januar dieses Jahres, ist es nun am 13. November erneut zu einer der größten islamistisch motivierten Terrorattacken in Europa gekommen.
Unsere Gedenkdiener erzählen von ihren Erlebnissen bei den Anschlägen, Hintergründen und den Reaktionen.
Charlie Hebdo

„Je suis Charlie“ – © APA/EPA/Guillaume Horcajuelo
Nach einem ersten Brandanschlag bereits im Jahr 2011, fand im Januar diesen Jahres das verheerende Terror-Attentat auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo statt, das weltweit für Schlagzeilen sorgte und von vielen als Angriff auf die Meinungsfreiheit interpretiert wurde. Charlie Hebdo hatte wiederholt Karikaturen des Propheten Mohammed veröffentlicht. Dies wurde von den Drahtziehern als Beweggrund für die abscheuliche Tat genannt.
Bei dem Attentat starben 12 Menschen und etliche weitere wurden verletzt. Doch die verbleibende Redaktion hielt dagegen, veröffentlicht bis heute weiter Karikaturen und möchte damit demonstrieren, dass man sich durch Anschläge nicht in seiner Freiheit einschüchtern lasse.

Place de la Republique – Charlie Hebdo Gedenkmarsch – © Sipa
Der Gedenkdiener in Paris zum Zeitpunkt des Anschlags auf Charlie Hebdo war Paul Pumsenberger. Er schilderte uns seine Eindrücke von der Stimmung nach dem Attentat und von seiner Teilnahme am Solidaritäts- und Gedenkmarsch, welcher eine der größten Kundgebungen in der französischen Geschichte werden sollte:
Das mit dem Anschlag macht die Dinge hier nicht gerade leichter. Der Spalt in der Gesellschaft ist mittlerweile doch ziemlich groß. Das Attentat dient natürlich mehr dem Zweck diesen Spalt noch zu vergrößern als irgendwie ‚Rache‘ zu verüben. Es ist einfach eine Strategie, die darauf abzieht, Muslime in Frankreich zu radikalisieren – die islamische Bevölkerung hier ist nämlich die am wenigsten religiöse in ganz Europa und daher haben gerade die Terrorgruppen kein großes ‚Mobilisierungspotenzial‘. Das soll durch nunmehr gesteigerte Unterdrückung durch die französische Rechte quasi ausgeglichen werden.
Ich habe selbst auch nur über Nachrichten und soziale Medien davon mitbekommen, abgesehen von circa 50 Polizeiautos, die gestern bei unserem Büro vorbeigefahren sind. Am Abend war ich dann bei der Versammlung am Place de la République und am Sonntag bei dem riesigen Trauermarsch, der mit mehr als 1,5 Millionen Menschen auch zur größten Kundgebung in der Geschichte Frankreichs wurde. Die Atmosphäre fühlte sich sehr eigenartig an. Alle fünf Minuten gab es Applaus, dann war’s plötzlich wieder ganz still.
Terroranschläge am 13. November 2015
Am Freitag nun die schockierenden Terroranschläge in Paris, eines der schlimmsten terroristischen Attentate der letzten Jahrzente in Europa mit mindestens 140 Toten. Ein trauriger Tag, dem noch lange gedacht werden wird, aber auch ein Tag, der die französische Gesellschaft weiter polarisieren wird.
Durchaus wird auch spekuliert, dass es einen antisemitischen Hintergrund geben könnte, wie es bei vergangenen Anschlägen in Frankreich und Belgien der Fall war. Eines der beiden Anschlagsziele in Paris war das Bataclan-Theater, ein beliebtes Pariser Vergnügungsetablissement, in dem bereits unzählige bekannte Künstler auftreten. Über lange Zeit und noch bis vor kurzem wurde das Konzerthaus von jüdischen Eigentümern geführt. Es wird davon berichtet, dass Islamisten in der Vergangenheit bereits mehrfach Drohungen gegen das Lokal ausgesprochen haben. Videos aus den vergangenen Jahren belegen dies.
Ob antisemitische Motive bei den aktuellen Anschlägen allerdings tatsächlich eine Rolle spielten ist noch unklar.
Auch das Bataclan-Theater soll wiedereröffnet werden. Leiter Dominique Revert. „Es wäre eine Kapitulation, würden wir das nicht tun.“
Gedenkdiener an der Alliance Israélite Universelle
Matthias Mitterböck leistet seit September seinen Gedenkdienst an der „Bibliothèque et Archives de la Alliance Israélite Universelle“ in Paris. Mit dem oft antisemitischen Hintergrund der vergangenen Anschläge in Frankreich und zunehmenden extremistischen Ideologien erklärt er:
Was am Freitag in Paris passiert ist, beweist für mich, dass die Sinnhaftigkeit unserer Arbeit außer Frage steht.
Zum Zeitpunkt der Terror-Anschläge war Matthias nicht unweit im Zentrum von Paris unterwegs, glücklicherweise allerdings keiner unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt:
Ich war gerade mit Freunden bei Châtelet, direkt im Zentrum der Stadt, im Kino als die Anschläge begannen. Als wir das Kino verließen um uns etwas zu essen zu holen kamen die ersten Nachrichten von Freunden und Verwandten, die sich nach unserem Wohlbefinden erkundigten. Nach kurzer Recherche wussten wir dann auch Genaueres ob des Horrors, der sich wenige Minuten von uns entfernt zutrug und entschieden so schnell wie möglich zu mir in die Wohnung, im 19. Arrondissement, zu fahren. Das hieß zwar, dass wir in Richtung Bataclan fahren mussten, da die Metrostationen in der Nähe der Anschläge abgesperrt waren bestand aber eigentlich keine Gefahr. 15 Minuten nachdem wir bei mir ankamen, wurde ein großer Teil der Öffentlichen Verkehrsmittel, unter anderem auch die zu mir führenden Linien, eingestellt. Im Nachhinein hatten wir wirklich ein Riesenglück.
Gedenken
Am Samstag empfahl die Stadtverwaltung der Bevölkerung sich möglichst zu Hause aufzuhalten, da die Lage noch nicht ganz gesichert und weitere Attentate nicht auszuschließen waren.
Wie schon vor zehn Monaten bei dem Anschlag auf Charlie Hebdo fanden sich am Sonntag – trotz bestehendem Versammlungsverbot – viele Menschen zu Gedenkkundgebungen am Place de la Republique zusammen. Auch Gedenkdiener Matthias besuchte den Platz um die Opfer zu würdigen.
von Ingo Zipser