Project Description
Virtuelle Rückkehr jüdischer Emigranten nach Wien
Hunderte Interviews mit österreichisch-jüdischen Emigranten bisher in Archiven – Einige aufwendig aufbereitet
Gudrun Springer
22. Oktober 2017, 12:04
Wien – Trudy Jeremias wuchs als Trudy Epstein in einer nach ihren Worten “viel zu großen” zweistöckigen Villa in Wien-Hietzing auf. Die meiste Zeit verbrachte sie draußen mit den Söhnen des Gärtners. Deren Vater sei “ein großer Nazi” gewesen, der die Familie oft anzeigte. Eine Stunde Religionsunterricht pro Woche war “das Einzige, was in meinem Leben mit jüdisch wirklich zu tun gehabt hat”, sagt Jeremias. Dann kam 1938 und der “Anschluss”. Die Epsteins packten einen Container mit Möbeln und der Keramikwerkstatt der Mutter und flohen in die USA. Trudy war 13 Jahre alt.
An einem Julitag vor gut neun Jahren fragte ein Gedenkdiener aus Österreich die damals 82-Jährige in New York nach ihrer Lebensgeschichte. Die Tonaufnahme davon bewahrte das Leo-Baeck-Institut dort als Teil einer Sammlung von inzwischen fast 600 Interviews mit österreichisch-jüdischen Geflohenen auf.
Die 1955 von Emigranten gegründete Einrichtung will Kultur und Geschichte deutschsprachiger Juden bewahren. Ziel eines Projekts zweier Historiker in Wien ist es, dieses Vermächtnis nun in den deutschsprachigen Raum zurückzuholen. Das Austrian Heritage Archive wird Montagabend in Wien präsentiert. In der Nacht auf Dienstag geht es online und wird kostenlos für jeden einsehbar. Der Standard erhielt vorab Einblick.
“Wir wollten das wertvolle Material für Wissenschafter und Interessierte aufarbeiten”, sagt Philipp Rohrbach vom Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien (VWI). Der Historiker leitet das Projekt gemeinsam mit Adina Seeger vom Verein Gedenkdienst. “Es ist sozusagen unsere Antwort auf die Frage, was geschieht, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt”, sagt Rohrbach, der auch Gedenkdiener in den USA war. Eine seiner Befragten war Trudy Jeremias.
Den Biografien der Sammlung ist gemein, dass sie von Flucht und ihren Folgen handeln, einem Thema, das an Aktualität nichts eingebüßt hat. Zugleich sind die Lebensläufe so verschieden, wie es Menschen eben sind. Die Biografie von Catriel Fuchs böte aufgrund der vielen Stationen Stoff für mehrere Lebensgeschichten. Der heute 92-Jährige wuchs als Karl Fuchs in ärmlichen Verhältnissen in Rodaun auf, damals noch ein Dorf vor der Stadtgrenze.
Catriel Fuchs gelang über Beograd und Skopje, Griechenland, die Türkei und Aleppo die Flucht nach Palästina. Dort arbeitete er in einem Kibbuz, in dem er seine spätere Frau Hilde kennenlernte, die ebenfalls aus Österreich geflohen war. Nach einem Gastspiel bei der britischen Royal Navy verdingte Fuchs sich als Lkw- und Taxifahrer, Möbelpacker, auf einer Ölplattform und als Reporter.
Die Reederei schickte Fuchs nach Paris, Frankfurt, Taiwan und Österreich. In Österreich verbrachte er neun Jahre. Das Land sei mit der NS-Vergangenheit “viel schlechter als Deutschland” umgegangen, meint Fuchs. Er sei da oft unterwegs gewesen, und “es gibt immer noch unterschwellig diese antisemitischen Vorurteile”.
Auch Trudy Jeremias hat Wien wieder besucht. Vor ihr verschlug es ihren Bruder Peter erneut dorthin: als US-Besatzungssoldat. Ein kurz vor ihm eintreffender Kamerad suchte die frühere Villa der Familie auf, traf dort den Gärtner an und teilte ihm mit, dass Peter Epstein kommen und sich rächen werde. “In der Nacht ist das Haus abgebrannt”, erzählt Trudy Jeremias. Ein Bild der Brandruine im Archiv zeugt davon.
Trudy Epstein heiratete, heuerte bei einer Fluggesellschaft an und wurde später Schmuckdesignerin. In den frühen 1960er-Jahren reiste sie für unbestimmte Zeit nach Wien, verließ es dann aber, “weil ich das Gefühl hatte, ich werde vermodern”.
Ganz als New Yorkerin, wo die 92-Jährige heute lebt, fühlt sie sich aber auch nicht. “Ich habe nie ganz hierhergehört, und ich habe auch nie ganz nach Wien gehört”, sagt sie relativ am Ende des fünfstündigen Gesprächs. Als ihr der Interviewer zum Schluss dankt, sagt sie über das Interview: “War auch für mich gut.” So erinnere man sich “an viele Sachen, die sonst nicht zum Vorschein kommen”. (Gudrun Springer, 21.10.2017)