Der 10-jährige Willi steht am Fenster. Das Haus seiner Eltern liegt am Unteren Stadtplatz. Von hier hat man einen spektakulären Ausblick: Hunderte Braunauer haben sich am Straßenrand versammelt. Die Straßen sind fein herausgeputzt. Die Stimmung ist feierlich. Alle Blicke sind auf die Inn-Brücke gerichtet. Der Inn ist damals, am 12. März 1938, die Grenze zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und Österreich. Der 10-Jährige am Fenster und all die anderen erwarten Adolf Hitler. “Es war bummvoll. Ich glaube, dass vorher und nachher niemals so viele Menschen am Stadtplatz waren wie damals”, erinnert sich Willi Schmid heute.
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“HISTORISCH VERSEUCHT”
“Ich war begeistert von der ganzen Aufmachung”, sagt Willi Schmid in leiser, aber fester Stimme, “ein Kind fast noch, ohne Hirn natürlich, was da dahinter steckt”. Gebannt lauschen die Schülerinnen und Schüler im Gymnasium Braunau seinen Erinnerungen. Genau 80 Jahre sind vergangen, seit Hitler hier den Inn überschritten hat, und Österreich von einem Tag auf den anderen ausgelöscht wurde. “Ich bin geschockt, mit wieviel Begeisterung Hitler damals empfangen worden ist”, sagt eine Schülerin, “ich hätte mir zumindest ein bisschen mehr Widerstand erwartet.” Eine Klassenkollegin entgegnet: “Wenn die ganze Masse so feiert, dann ist man sehr geneigt, mitgerissen zu werden.“
Vor 80 Jahren wurde in der oberösterreichischen Bezirksstadt Braunau am Inn Geschichte geschrieben. Im Klassenzimmer der 8G wird die Geschichte nun wieder lebendig. Hier wurde jener Mann geboren, der für systematische Vernichtung verantwortlich sein wird und den größten Krieg der Menschheitsgeschichte auslöst. 119 Jahre nach seiner Geburt und 80 Jahre nach dem “Anschluss” hat Braunau immer noch mit seiner Hitler-Vergangenheit zu kämpfen.
Mit der Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich verschwand Österreich von der Landkarte. Österreicher machten im Nazi-Regime Karriere. Hitler und die Nazis sperrten politische Gegner in Konzentrationslager, folterten und mordeten. Hitler gab den Befehl zur systematischen Ermordung von Millionen Juden. Der Zweite Weltkrieg führte zu Kriegsverbrechen, Völkermord und vielen Millionen Kriegstoten. Hitlers Traum von einem “Tausendjährigen Reich” zerstörte Familien und Existenzen und führte Europa in nur wenigen Jahren an den Abgrund. Mit dem “Anschluss” war Österreich Teil von Hitler-Deutschland.
“Die politische Entscheidung, keinen Widerstand zu leisten, ist in Wien getroffen worden”, resümiert Historiker Florian Kotanko. Der damalige Bundeskanzler Kurt Schuschnigg regierte autoritär und plante Anfang März 1938 eine Volksbefragung, ob Österreich als eigenständiger Staat bestehen bleiben sollte. Hitler machte daraufhin seine Armee mobil. Am Vorabend des “Anschlusses” verkündete Schuschnigg in einer Ansprache im Radio, er wolle “kein deutsches Blut” vergießen, das Bundesheer bekam keinen Schießbefehl. “Das war erst in der Nacht davor. Die deutschen Truppen waren in Bereitstellung. Man wusste nicht, ob Widerstand geleistet wird, oder ob die Brücke gesprengt wird. Diese Unsicherheit war für die deutschen Truppen nicht zu unterschätzen”, sagt Historiker Kotanko.
Hitlers Geburtshaus in der Salzburger Vorstadt Nr. 15 sieht unscheinbar aus. Ein großer Stein mit gravierter Inschrift steht vor dem Haus – als Mahnmal gegen Faschismus. Lang war Hitler nicht in Braunau. Bereits die Volksschule besuchte er woanders. Wien und München beeinflussten ihn in späteren Jahren viel mehr als das kleine Braunau. Doch dass der so genannte “Anschluss” gerade in Braunau begann, war gewiss kein Zufall. “Gleich zwei Mal fuhr er mit dem offenen Wagen an seinem Geburtshaus vorbei. Stehengeblieben ist er jedoch nicht”, erzählt Historiker Kotanko. Bis heute gilt das Gebäude als Anziehungspunkt für Neonazis. Auf einem Laternenmasten daneben entdecken wir einen Aufkleber mit einschlägigem Text.
Schon seit Jahrzehnten wird diskutiert, was mit Hitlers Geburtshaus nun geschehen soll. Ein geschichtsträchtiger Ort, für den bis heute keine geeignete Verwendung gefunden wurde. “Mit diesem Haus kann man nicht mehr viel machen”, sagt einer der Braunauer, die wir auf der Straße fragen, “es gehört niedergerissen und etwas Neues aufgebaut.” Eine Frau widerspricht: “Nicht niederreißen! Es kommen ja viele Urlauber wegen dem Hitler-Haus.”
Eine Gruppe von Zivildienern und Braunauern hat sich zusammengetan, um eine ganz andere Idee für das Hitler-Haus zu bewerben. Sie wollen ein “Haus der Verantwortung” einrichten, wo junge Menschen aus aller Welt zusammenkommen, um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu diskutieren. Warum? “Wir sind wie ein Tschernobyl der Geschichte”, sagt Matthias Grafenauer in Anspielung auf die Atomkatastrophe, “ein historisch verseuchter Ort.” Ideen gibt es viele, Umsetzung auch 80 Jahre nach dem “Anschluss” keine. Bis 2011 war eine Behindertenwerkstatt der Lebenshilfe dort untergebracht. Zuletzt hat die Republik Österreich das Haus enteignet, um selbst die Zukunft zu bestimmen. Von einem Abriss ist nun keine Rede mehr, das FPÖ-geführte Innenministerium hat einen Architektenwettbewerb für eine Sanierung in Aussicht gestellt.
Für ein neues Image, abseits von Hitler, hat die Stadt die Marketing-Expertin Elke Pflug engagiert. Bei einem Stadtspaziergang führt sie uns an Sehenswürdigkeiten der spätgotischen Altstadt vorbei. Ihre Aufgabe sei es, die positiven Seiten der Region aufzuzeigen “mit allen ihren Vorzügen, mit der intakten Natur, die eine sehr hohe Lebens- und Freizeitqualität bietet, einem hochqualitativen kulturellen Angebot und einer boomenden Wirtschaftsregion.” Braunau ein neues Image zu verpassen ist wohl eine Herkulesaufgabe. “Wenn du im Urlaub angesprochen wirst, woher du kommst”, schildert eine junge Braunauerin, “und du sagst aus Braunau, dann heißt es Achso, aus der Hitler-Stadt. Das wird sich nie ändern.” Für den mittlerweile 90-jährigen Willi, der 1938 am Fenster gestanden ist, ist das aber kein Problem „Es soll jeder wissen: Da ist der Falott geboren!“