Gedenkdienst in der Provinz
Vor 60 Jahren wurde das zentralfranzösische Dorf Oradour-sur-Glane von den Nazis ausgelöscht. Heute gibt es dort die Möglichkeit, Gedenkdienst zu leisten. STEFAN KRIECHBAUMER, einer von zwei jungen Österreichern, die in Oradour eingesetzt waren, fasst seine Eindrücke zusammen.
Oradour-sur-Glane – ein Name, der weit über die französischen Grenzen hinaus Symbolstatus trägt. Am 10. Juni 1944 wurde das Dorf in der zentralfranzösischen Region Limousin ausgelöscht. 642 Männer, Frauen und Kinder wurden erschossen oder bei lebendigem Leibe verbrannt, danach setzte das dafür verantwortliche Regiment „Der Führer“ der SS-Division „Das Reich“ das gesamte Dorf in Flammen. Das jüngste Opfer war acht Tage alt.
In Oradours Fall legte man bewusst Grausamkeit an den Tag. In SS-Dokumenten ist von der Notwendigkeit eines „entschlossenen rücksichtslosen Durchgreifens“ die Rede und von der „Hilflosigkeit der deutschen Stellen“ (gegenüber der Résistance), die „geradezu beschämend sei“. In der Tat gab es in dieser Region Frankreichs Widerstand, nur – nicht in Oradour. Oradour war friedlich, der Krieg schien in Ferne. Gerade diese Tatsache vereinfachte es der SS-Divsion, das Dorf auszulöschen – sie würde hier nicht auf Widerstand stossen. Oradours Fall sollte Widerstandsleistende abschrecken, ihnen Angst einflössen.
Beklemmende Atmosphäre
Die Ruinen des Märtyrerdorfes Oradour wurden nach Kriegsende zum historischen Bauwerk erklärt und sind nach wie vor für Besucher zugänglich. Wer zum ersten Mal durch die Strassen schlendert, ist meist sprachlos. Die Atmosphäre wirkt beklemmend; die düster erscheinenden Fassaden der noch existierenden Häuser, die ehemaligen Stromleitungen und die Gleise der einstigen Zugsverbindung nach Limoges, die mitten durch das Dorf führen, ergeben ein Ensemble, das man sonst nirgends findet. Wer Oradour besucht, wird seine Eindrücke nicht so schnell wieder vergessen. Die meisten Besucher sind über die Dimensionen Oradours erstaunt – es handelte sich um ein grosses und vor allem wirtschaftlich florierendes Dorf, in dem vom Schuster bis zum Zahnarzt alle möglichen Berufszweige anzutreffen waren.
Mehr als eine Viertel Million Personen besichtigen jährlich die Ruinen. 1999 wurde in Oradour zudem eine Gedenkstätte, das Centre de la Mémoire, eröffnet, die sich aus der Dauerausstellung, temporären Ausstellungen, einer pädagogischen Abteilung sowie einem Dokumentationszentrum zusammensetzt.
Wenig bekannt ist die Möglichkeit, in Oradour alternativ zum österreichischen Zivildienst Gedenkdienst zu leisten. Der Aufbau und die Pflege von Beziehungen der Institution mit anderen Gedenkstätten, Hilfsleistungen bei der Durchführung von historischen Projekten und der Dauerausstellung sowie Übersetztungstätitkeiten sind Aufgabe der Gedenkdiener. Erst zwei junge Österreicher machten von dieser Möglichkeit Gebrauch, 2005 könnte theoretisch der Nächste seinen Dienst in Oradour antreten. Interessenten gibt es bis dato keine. Hat man die Wahl zwischen Gedenkdienst in Los Angeles, Montreal, London, Paris, Mailand, Berlin oder Oradour, so wird Oradour von den meisten jungen Österreichern von Vornherein ausgeschlossen. Wer unbedingt in Frankreich Gedenkdienst leisten will, entscheidet sich zumeist für Paris. Oradour dagegen spricht aufgrund seiner Unbekanntheit die wenigsten an. Das 20 Kilometer östlich gelegene Limoges, die französische Hauptstadt des Porzellan, ist in Österreich um einiges bekannter als das geschichtsträchtige Oradour.
Weißer Fleck
Die Statistikzahlen der nichtfranzösischen Besucher des Jahres 2003 sprechen eine deutliche Sprache. Neben den 14.051 Briten, den 3.926 Niederländern und den 3.593 Belgiern, um nur einige Zahlen zu nennen, sehen die 14 Österreicher, die in diesem Jahr die Gedenkstätte in Oradour besucht haben, freilich mager aus. Ausschliesslich an der Tatsache, dass generell weniger Österreicher nach Frankreich als etwa nach Italien oder Spanien reisen, kann es nicht liegen.
Warum ist Oradour in Österreich derart unbekannt? Generell ist der Kriegsverlauf im Westen weniger bekannt als der Terror, den die Nationalsozialisten im Osten bewirkten. „Auschwitz“ ist zum Symbol für den Holocaust geworden; die Geschichte vieler anderer Orte (und Opfergruppen) ist weit weniger geläufig. Über Orte wie Lidice in Tschechien oder eben Oradour hört man in Österreich vergleichsweise wenig. Außerdem sind die vorhandenen Veröffentlichungen über die Ereignisse von Oradour meist nur in französischer und englischer Sprache erhältlich und weder in den heimischen Geschichtsbüchern noch in den für den Französischunterricht verwendeten Lehrbüchern findet Oradour die entsprechende Aufmerksamkeit.
Auch das sich mehrende Desinteresse, die „Ich kann es schon nicht mehr hören“-Klagerufe, das Gefühl der Übersättigung, was die Geschichte des Zweiten Weltkrieges betrifft, tragen mit Sicherheit dazu bei, dass einzelnen Orten wie Oradour, die eher als Detail am Rande betrachtet werden, wenig Interesse geschenkt wird.
Am 10. Juni 2004 jährt sich das Massakers zum 60. Mal. An der Gedenkfeier wird auch der französische Premierminister Jean-Pierre Raffarin teilnehmen. Anlässlich des Gedenkjahres wird in Oradour um den 10. Juni außerdem das Seminar „Geschichte, Gedenken – Pfeiler für die Konstruktion Europas?“ stattfinden. Die Teilnehmer aus Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Polen und Tschechien werden allesamt aus Orten kommen, die während des Zweiten Weltkrieges ausgelöscht wurden.
Für kommendes Jahr ist die Realisierung einer Ausstellung über Oradour zuerst in Nürnberg und München und anschliessend in Wien geplant. In der Ausstellung, die den Namen „Erzähl mir von Oradour“ trägt, werden Fotos von renommierten Fotografen wie Willy Ronis und Jean Dieuzaide sowie zeitenössischen Fotografen wie auch dem Österreicher Arno Gisinger gezeigt. Sie alle besuchten in den vergangenen 60 Jahren Oradour-sur-Glane und hielten ihre Eindrücke fotografisch fest. Sie alle waren von Oradour bewegt, denn der Ort ist eizigartig. Und wird vielleicht in Zukunft auch in Österreich bekannter sein.
www.oradour.org
www.gedenkdienst.org