Nicaragua – Mit dem Blick eines Österreichers

Vení Ve“, zu deutsch „Komm schau her“ heißt die Fotoausstellung die Sozialdiener Raphael Reichl an seiner Einsatzstelle in Nicaragua selbst kuratierte. Zu sehen waren Eindrücke, Landschaftsporträts, Begegnungen und vor allem eines: Situationen des alltäglichen Lebens.

Spontan zum Künstler

„Eigentlich habe ich ursprünglich für mich selbst fotografiert. Der Traum von einer eigenen Ausstellung war da noch gar kein Thema“, erzählt Raphael Reichl, der seit Herbst im Kunst- und Kulturzentrum Casa de los Tres Mundos (Haus der drei Welten) einen Sozialdienst leistet. Normalerweise arbeitet er hier an Graphikprojekten, designed Plakate oder ist zuständig für die Eventfotografie an der Casa. An den Wochenenden dagegen bereist er das Land, lebt bei verschiedenen Gastfamilien und versucht so viel von der fremden Kultur aufzusaugen, wie nur möglich. Was dabei nie fehlt? Seine Kamera.

Und so wurde Raphael Reichl vom Sozialdiener selbst zum ausstellenden Künstler. Aus dem Bauch heraus erzählte der ausgebildete Graphikdesigner im November an der Casa von seinen „Eindrücke eines Österreichers“, wie er seine Fotografien nennt. Die Bilder kamen an und prompt schlug man ihm vor Ende April seine erste eigene Austellung in der Casa de los Tres Mundos zu kuratieren.

Immer ein direkter Vergleich mit Österreich

Material hatte er genug, denn von Beginn an war das Objektiv sein treuer Begleiter. „Da ich anfangs noch Probleme mit der Kommunikation hatte, habe ich mich in der Position als Beobachter sehr wohl gefühlt“, blickt Raphael zurück. Viele Situationen, die er anfangs noch nicht verstand, hielt er in Bildern fest: Was die Menschen miteinander sprechen, welche Gestik sie benutzen, wie man die Mimik je nach Situation lesen kann, all das sammelte er in Form von Fotos.

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„Ich fühlte immer einen direkten kulturellen Vergleich mit zu Hause, wenn ich ein Foto schoss“, erklärt Raphael. Vieles was in Nicaragua alltäglich ist, findet man kaum in Österreich. Menschen, die im Schaukelstuhl vor ihrem Haus sitzen, Türen, die für jeden offen stehen oder Obstverkäufer, die mit ihrem einmaligen Ruf ihre Waren anbieten. Der markanteste Unterschied ist für den Wiener jedoch, dass die Leute hier viel mehr auf der Straße kommunizieren: „Das habe ich aus Österreich so nicht gekannt“.

Zur Kommunikation in Nicaragua gehören nämlich einzigartige Laute, Mimik, Gestik und Wörter, die man nicht mal in einem anderen spanischsprechenden Land findet. Um auf eine Person zu zeigen, werden beispielsweise nicht die Hände oder die Finger benutzt, sondern der Mund. Mit dem wird in Form eines Kusses in die Richtung des Gegenübers gedeutet „Für mich sah es erst so aus, als würde man mir ein “Bussi” geben wollen“, lacht Raphael. Dazu kommt die Gestik: „Mir ist hier erst aufgefallen, wie wenig wir Österreicher gestikulieren“. In Nicaragua ist das anders. Für eine Vielzahl von Situationen und Emotionen gibt es einfache Gesten, die jeder versteht. Zum Beispiel: Wenn der Zeigefinger auf den Mittelfinger schnalzt bedeutet das: “Wahnsinn, das war hart” oder auch „das war echt lustig“.

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Filmen mit einem Oskarnominierten Dokumentarfilmer

Auch das wollte Raphael Reichl in Vení Ve zeigen. Nur wie? Durch Fotografie lässt sich die Lebendigkeit der Bewegungen kaum abbilden. Raphael wollte die Artikulation der nicaraguanischen Kultur deshalb auch in einem Videoprojekt festhalten. Über Wochen sammelte er typische Gesten, Redewendungen, Geräusche und Pfiffe, die schließlich zu einer Collage zusammen geschnitten werden sollten. Prominente Hilfe bekam der Sozialdiener vom Oskar nominierten Filmproduzenten Gabriel Serra. Raphael lernte Serra in einem Dokumentarfilmworkshop (dazu hier mehr) kennen, die beiden verstanden sich und blieben in Kontakt. Als Raphael Serra beim Frühstücken von seiner Idee erzählte, war dieser sofort begeistert und bot seine Hilfe an.

Mit professionellem Equipment und engagierten Freunden drehten sie Raphaels Szenen in einem ruhigen Hotelinnenhof nach. Authentischer wäre natürlich die Straße gewesen, aber dort war es schlicht zu laut.

Das Ergebnis lässt sich zum Teil als Aktion – Reaktion interpretieren. Die Person von links kommuniziert etwas, die Person von rechts reagiert darauf. Einen durchgehenden Plot konnte man aber nicht daraus machen. Viel mehr sieht Raphael den Clip als „Raupe, die sich immer weiter nach vorne bewegt“. Wie auch die Kommunikation in Nicaragua niemals still steht, sondern stets nach vorne treibt.

Vom Beobachter zum Teilnehmer

Integration ist dem Sozialdiener das Wichtigste an seiner Ausstellung. Während er am Anfang nur spärlich Spanisch sprach half ihm die genaue Beobachtung schon bald an der Nicaraguanischen Kultur teilzunehmen. Raphael sieht seine Ausstellung auch als Teil seiner ganz persönlichen Entwicklung. Er ist jetzt Teilnehmer des Lebens in Granada, nicht mehr nur Beobachter. Die Fotographie war ein wichtiger Bestandteil dieses Prozesses.

Raphael Reichl zeigt mittlerweile auch schon mit dem „Bussi-Mund“. Noch zwei weitere Monate wird er an der Casa arbeiten, bevor sein Sozialdienst endet. Die Kultur zurück zulassen wird ihm nicht leicht fallen. Eventuell wird seine Ausstellung nach seiner Rückkehr auch in Wien zu sehen sein.

von Tobias Mayr


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